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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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nein
wirklich, was für ein Fall... «
HYDE PARK
    Der Nachmittag war mild und trocken, Sonnenschein
brach ab und zu durch duftige Wolken. Die Hände in den
Taschen und finster blickend, ging Jim in Richtung Hyde
Park. Wäre ihm jetzt Alistair Mackinnon über den Weg
gelaufen, hätte der sein blaues Wunder erleben können.
    Bis zum Park hatte sich dann aber sein Unmut gelegt. Er
schlenderte zum Carriage Drive, einem Kutschweg, und
setzte sich unter einen Baum ins Gras. Dort strich er mit
den Fingern durch die trockenen Halme und schaute sich
die Kutschen an, die hier vorbeifuhren.
    Für Spazierfahrten war es die falsche Jahreszeit, am
besten kam man im Sommer hierher. Auf dem Fahrweg
herrschte dann ein solcher Verkehr, dass die Kutschen
kaum vorwärts kamen, doch darauf kam es nicht an. Wer
hierher kam, wollte gesehen werden mit seinem
Landauer oder Victoria-Zweisitzer, mit seinen edlen
Grauschimmeln oder seinem feschen Groom, er wollte
von Lady Soundso erkannt werden oder Miss Dingsbums
schneiden. Im Winter fand dieses gesellschaftliche
Turniertreiben in geschlossenen Räumen statt, während
der Carriage Drive den wenigen Leuten überlassen blieb,
die frische Luft schnappen oder ihre Pferde bewegen
wollten. Jim war jedoch hierher gekommen, um Lady
Mary zu sehen. Seit der traumähnlichen Begegnung im
Wintergarten war sein ganzes Denken und Streben nur
auf sie ausgerichtet wie die Kompassnadel nach Norden.
Er hatte sich am Cavendish Square herumgetrieben, ihr
Kommen und Gehen beobachtet, sie im Fenster des
Salons gesehen...
    Er gestand sich selbst ein, dass sein Verhalten töricht
war. Er hatte dutzendweise Mädchen gekannt,
Kellnerinnen und Tänzerinnen, kecke und schüchterne,
provokante und biedere. Er hatte mit ihnen geplaudert
und geflirtet, sie ins Varietee oder zu einer Bootspartie
eingeladen. Im Allgemeinen hatte er keine Mühe,
Mädchen um den Finger zu wickeln. Nicht, dass er
besonders gut ausgesehen hätte, aber er besaß einen
raubeinigen Charme, den er zum großen Teil seiner
Vitalität und seinem Selbstvertrauen verdankte. Er
konnte mit Mädchen umgehen, mochte ihre Gesellschaft
und ihre Küsse: Hastige Küsse auf Treppen oder lange im
Dunkeln hinter den Kulissen eines Theaters oder in einer
Laube in den Cremorne Gardens, als dieser Lustgarten
noch nicht geschlossen war. Aber was er jetzt erlebte,
war etwas ganz anderes. Einmal abgesehen von der
gesellschaftlichen Kluft zwischen ihnen: sie die Tochter
eines Grafen, er der Sohn einer Wäscherin --- selbst
wenn ein gesellschaftlicher Umgang möglich gewesen
wäre, hätte er ihr ganz anders begegnen wollen, denn sie
war anders als die anderen. Jede ihrer kleinen Gesten an
dem Tag im Wintergarten, jede Locke ihres reichen
Haars, die leichte Rötung ihrer Wangen, die Erinnerung
an den süßen Hauch ihres Atems auf seinem Gesicht, als
sie sich zu ihm beugte, um ihm etwas zuzuflüstern ---
alles war so unendlich kostbar für ihn. Vor allem aber
wusste er nicht, was er mit dieser Erinnerung anfangen
sollte.
    Außer sie anzuschauen. Und weil er alle
Aufmerksamkeit für sie hatte, war ihm nicht entgangen,
dass sie nachmittags gern ausfuhr. Auf eine bloße
Vermutung hin war er in den Park gekommen. Aber er
hatte ins Schwarze getroffen, denn als eine Kutsche an
dem Baum vorüberfuhr, wo er saß und ein trockenes
Blatt zerknüllte, hob er die Augen und blickte
geradewegs in das angebetete Gesicht. Sie fuhr in einem
hübschen Victoria-Zweisitzer vorüber. Der Zylinder
tragende Kutscher blickte geradeaus und hielt die
Peitsche auf die gebotene, arrogante Art. Sie lehnte
schlaff und teilnahmslos in den Polstern, doch sobald sie
Jim sah, richtete sie sich auf, machte Anstalten zu reden
und streckte die Hand aus - aber da war die Kutsche auch
schon vorüber und ihre Gestalt für Jims Augen
verschwunden.
    Jim sprang auf und lief ein paar Schritte. Er fühlte sich
hilflos, aber dann sah er plötzlich, wie der Kutscher den
Kopf neigte und sich zurücklehnte, wie um zu horchen.
    Dann wurde die Kutsche tatsächlich langsamer. Er
schloss die Augen. Die Kutsche mochte jetzt etwa dreißig
Meter entfernt sein; der Hufschlag hörte auf, er hörte, wie
ihre Stimme etwas zu dem Bedienten sagte, dann fuhr die
Kutsche weiter. Sie wartete auf ihn unter den Bäumen.
Sie trug einen Astrachanmantel und ihre Hände steckten
in einem Muff aus demselben Material. Ihr Hut war mit
dunkelgrünem Band verziert und saß ihr wie eine Krone
hoch auf dem Haupt. Alles an ihr war vollkommen.

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