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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Garland in der Burton
Street an. Er war noch müde, ungekämmt und unrasiert
nach der langen Nacht in einem Bummelzug. Gegessen
hatte er seit dem gestrigen Mittag auch nichts mehr.
Dennoch schob er sein Frühstück beiseite und hörte
aufmerksam zu, was Sally ihm berichtete. Dann rief er
Jim herbei.
»Das ist eine Aufgabe für Turner & Luckett«, sagte er
munter. »Sally, du kannst meinen Kaffee haben... «
Eine Stunde später fuhr ein Umzugswagen vor Baltic
House vor. Zwei Männer mit Schiebermützen und grünen
Schürzen stiegen ab, einer von ihnen band ihrem
mageren grauen Gaul einen Hafersack vor, dann gingen
sie gemeinsam an dem feisten Portier vorbei ins Haus.
»Wir kommen wegen einer Ladung Akten«, sagte der
größere der beiden (ein Kerl mit einem Respekt
einflößenden Schnauzbart) zu einem Diener. »Die Fuhre
soll zum Hyde Park Gate gehen. « »Ah, da ist wohl Mr.
Bellmann gerade hingefahren«, sagte der Diener. »Ich
weiß bloß nicht, wo man die Akten gelagert hat. Ich frage
am besten den Büroleiter, der müsste es wissen. « Ein
Botenjunge wurde fortgeschickt, und fünf Minuten später
trugen die beiden Spediteure die erste Ladung Akten aus
dem Haus und verstauten sie im Umzugswagen. Als sie
für die zweite Ladung zurückkamen, fragte sie der
Diener: »Sie haben doch wohl eine schriftliche Order.
Darf ich mal einen Blick darauf werfen? Und dann
brauche ich noch eine Quittung.
»Klar doch, bekommen Sie alles. Du, Bert, geh schon
mal rauf und fang mit der zweiten Ladung an. « Der
Jüngere mit dem dünnen Schnurrbart ging an ihnen
vorbei, während der Diener die Umzugsorder las.
Nachdem alle Akten im Wagen verstaut waren, stellte der
Ältere eine Quittung auf dem Büropapier seiner Firma
aus, gab sie dem Diener und kletterte auf den Bock. Der
Jüngere nahm dem Gaul den Hafersack wieder ab, und
dann fuhren sie vor dem salutierenden Portier los. Erst
als sie um die Ecke gebogen und nicht mehr in Sicht von
Baltic House waren, sprach der Jüngere zum ersten Mal:
»Sauber, Fred«, sagte er. »Sauber, Jim«, kam die
Antwort.
Jim zog vorsichtig an einem Schnurrbartende und
zuckte, weil der Kleber an der Oberlippe haften blieb.
»Mal nicht so zimperlich«, sagte Fred. »Einmal beherzt
daran gezogen, und der Bart ist ab. «
Dann langte er hinüber und befreite Jim mit einem Ruck
von der falschen Pracht. Auf das kurze, reißende
Geräusch folgte eine Tirade von Jims schlimmsten
Flüchen, die, wie Frederick meinte, ein Pferd hätten
erröten lassen.
»Weißt du was«, sagte er zu Jim, als dessen
Schimpfkanonade zu Ende war, »ich biege hier ein, und
du springst runter und drehst die Schilder um. Außerdem
legen wir die Schürzen ab, nur für den Fall, dass einer in
Baltic House aufwacht und die Verfolgung aufnimmt... «
Zwei Minuten später hatten sie ihre Schiebermützen
gegen Melonen eingetauscht und die Firmenschilder in GEBRÜDER WILSON LEBENSMITTELGROSSHANDEL getauscht. Unbehelligt fuhren sie in die
Burton Street.
»Oh Fred - ich kann es noch gar nicht glauben!« Sally
stand im Hof und schaute in den Umzugswagen. Sie
strich mit der Hand über den ersten Stapel kartonierter
Mappen, dann drehte sie sich um und warf ihre Arme um
Fredericks Hals. Der antwortete ebenso stürmisch. Ihre
Umarmung lösten sie erst, als über ihnen wild Beifall
geklatscht wurde. Frederick schaute nach oben und sah
die breit grinsenden Gesichter der Glaser, die die Fenster
in die neuen Atelierräume einsetzten. »Was grinst ihr
denn so blöde?«, empörte er sich.
Dann aber sah er das Komische an der Szene und lachte
selber, und auch Sally konnte sich ein Lächeln nicht
verkneifen. Gemeinsam gingen sie in die Küche.
»Möchtest du überprüfen, ob auch nichts fehlt?«, fragte
er sie. »Nachher... Oh Fred, vielen, vielen Dank. « Mit
Tränen in den Augen streckte sie hilflos die Hände aus
und ließ sich dann auf einen Stuhl nieder. Jim machte
eine Flasche Bier auf und schenkte den anderen ein.
Frederick nahm einen langen Schluck. »Wie habt ihr das
bloß geschafft?«, fragte sie. »Es ist zu schön, um wahr zu
sein... Ich dachte wirklich, alles wäre verloren. « »Ich
habe einen Brief auf Geschäftspapier mit Firmenzeichen
geschrieben --- nicht diese Firma hier, sondern Turner &
Luckett -, und darin bestätigt, dass der Transport von
Akten nach Hyde Park Gate 47 genehmigt ist. Weiter
nichts. «
Die Firma Turner & Luckett gab es gar nicht. Frederick
hatte sich verschiedene Vorlagen mit Briefköpfen auf
diesen Namen angelegt,

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