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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Jim
merkte, wie er auf sie zuging, ohne zu wissen, wie und
warum. Er streckte die Hände aus, und sie erwiderte
seine Geste instinktiv. Dann aber, so als erinnerten sie
sich, wer sie waren, oder als erwachten sie aus ihrem
Traum, standen sie still und blieben stumm.
    Jim nahm die Mütze ab. Das macht man wohl so vor
Damen, dachte er.
»Ich habe dem Kutscher gesagt, dass ich ein Stück zu
Fuß gehen will«, sagte sie schließlich. Sie war ebenso
nervös wie er. »Nette kleine Kutsche«, fiel ihm ein.
Sie nickte. »Sie haben sich am Mund verletzt«, sagte
sie, und schaute dann errötend beiseite.
Als hätten sie sich darauf geeinigt, begannen sie
langsam unter den Bäumen weiterzugehen.
»Machen Sie den Spaziergang hier draußen immer
allein?«, fragte er.
»Sie meinen, ohne eine Anstandsdame? Ich hatte früher
eine Gouvernante, aber sie wurde entlassen. Mein Vater
hat kein Geld mehr dafür. Oh, ich weiß nicht, was ich tun
soll... « Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Kindes
--- schüchtern, vertrauensvoll und scheu --- und ihre
ungewöhnliche Schönheit hatte ebenfalls etwas
Unerwachsenes. Es schien, als wüsste sie nicht, was
damit beginnen; als sei sie gerade erst in diese Welt
gestoßen worden.
»Wie alt sind Sie eigentlich?« »Siebzehn. « »Schauen
Sie«, sagte er sanft, »wir wissen alles über Mackinnon. «
Sie blieb stehen und schloss die Augen. »Weiß es auch
der andere?«, hauchte sie fast.
»Bellmann? Ja. Er ist hinter ihm her. Neulich Abend
hätte er ihn beinahe erwischt --- bei der Gelegenheit habe
ich einen Zahn verloren. Sie konnten nicht erwarten, dass
es geheim bleibt. Ihr Vater weiß auch Bescheid, nicht
wahr?« Sie nickte. Langsam gingen sie weiter.
»Was kann ich denn tun?«, fragte sie. »Ich fühle mich
wie eine Gefangene. Wie verurteilt... zum Tode. Ich kann
nicht entfliehen. Es ist wie ein Albtraum. «
»Erzählen Sie mir von Mackinnon«, bat Jim. »Wir
haben uns bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung
kennengelernt, bei der er in unserem Haus bei
Netherbrigg aufgetreten ist. Später haben wir uns allein
getroffen... Ja, und dabei muss ich mich wohl in ihn
verliebt haben. Es ging alles so plötzlich. Wir wollten
heiraten und nach Amerika auswandern. Eine Frau
namens Mrs. Budd half uns und besorgte einen Anwalt.
Doch als es dann ums Auswandern ging, konnte sich
Alistair nicht recht entscheiden. Außerdem stellte sich
heraus, dass ich nicht an mein Geld kam, wir hatten also
nichts... Mein Vater wollte die Heirat für ungültig
erklären lassen. Aber dafür gab es keine juristischen
Gründe, weil... ja weil wir die Nacht in der Pension
verbracht hatten, in der er damals wohnte. Die Heirat war
also in jeder Hinsicht gültig und ist es auch jetzt noch.
Und nun... «
Die Stimme versagte ihr, sie begann leise zu weinen. Er
legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte ihr
Gesicht sanft gegen sich. Sie war so leicht, ihr warmes,
duftiges Haar so weich --- es war wie im Traum. Bevor
er noch recht wusste, was er tat, küsste er sie schon.
Nichts geschah. Der Augenblick ging vorüber. Sie
wandte sich ein wenig zur Seite, und beide waren wieder
getrennt. »Aber Ihr Vater«, begann Jim stockend. »Wenn
er weiß, dass... « »Es geht um Geld«, sagte sie. »Mr.
Bellmann hat ihm sehr viel Geld versprochen, für den
Fall, dass wir heiraten. Mein Vater weiß nicht, dass ich
das weiß, aber es ist offensichtlich. Und er ist so hoch
verschuldet, dass er nicht abzulehnen wagte. Jetzt sucht
er ebenfalls Alistair. Wenn Sie ihn nicht bald finden... «
Vor schierer Pein versagte ihr die Stimme erneut. Er
versuchte, sie wieder zu umarmen, doch sie entzog sich
ihm und schüttelte den Kopf.
»Wenn ich Mr. Bellmann heirate, werde ich zur
Bigamistin«, sagte sie. »Eine Frau, die in Doppelehe lebt.
Wenn ich mich aber weigere, kommt Papa ins Gefängnis.
Und ich kann mit niemandem darüber reden. Wenn sie
aber Alistair finden, werden sie etwas Schreckliches mit
ihm machen, da bin ich mir sicher... «
Sie gingen weiter. Irgendwo in den Zweigen sang ein
Vogel. Im hellen Licht der Mittwintersonne erschien ihre
Haut noch ätherischer, ihre Knochen an Wangen und
Schläfen noch zarter. Jim fühlte sich benommen und
schwach, wie jemand, der gerade erst von einer schweren
Krankheit genesen war. Er wusste, dass dieser
Augenblick nicht lange anhalten konnte. Bald würde der
Kutscher seine Runde gedreht haben und wieder zu ihnen
aufschließen. »Es ist wie neulich in unserem
Wintergarten«, sagte sie. »So als gäbe

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