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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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kommen?«, fragte er. Sie
schüttelte hilflos den Kopf, den Blick schon auf die
Kutsche gerichtet.
»Dann schreiben Sie mir«, sagte er hastig und suchte in
einer Jackentasche nach Fredericks Visitenkarten. »Das
ist die Adresse. Jim Taylor. Versprechen Sie's?«
»Ich verspreche es«, sagte sie und fasste ihn mit einem
letzten traurigen Blick noch einmal bei der Hand.
Während ihre Körper schon auseinander strebten, hielten
Sie sich noch die Hände, bis sich auch diese Berührung
löste und sie unter den Bäumen hervor ins Freie trat. Jim
blieb, wo er war, als der Kutscher den Wagen zum
Stehen brachte. Er sah, wie sie sich noch einmal
umdrehte und ihn scheu anschaute, aber er erkannte
nichts mehr, denn irgendetwas Merkwürdiges war mit
seinen Augen passiert. Ärgerlich wischte er mit dem
Handrücken darüber, doch da war die Kutsche schon
wieder losgefahren und verschwand im Verkehr am Hyde
Park Corner.
Isabel hatte nur still dagesessen, als Sally ihr von
Mackinnons Heirat berichtete, und sie hatte nur genickt
und war ihr wortlos in die wartende Droschke gefolgt.
Sie setzte sich neben Sally, immer noch schweigend, und
verbarg ihr Gesicht in ihrem Schleier. »Was macht die
Wunde?«, wollte Sally wissen, nachdem die Droschke
den Platz verlassen hatte. »Tut sie sehr weh?« »Ich spüre
sie kaum«, lautete Isabells Antwort. »Es ist nicht der
Rede wert. «
Sally verstand, dass das heißen sollte: Verglichen mit
dem, was ich gerade erfahren habe. Isabel hätschelte das
kleine Nadelkästchen so, als ob sie nicht einmal der Tod
von ihm trennen könnte. Die beiden Frauen hatten rasch
ein paar Kleidungsstücke in eine große Reisetasche
gepackt und waren sofort zur Burton Street gefahren.
Dort mussten Zimmer neu eingerichtet werden, dann
wollte sich Sally darum kümmern, Isabel so bald wie
möglich Beschäftigung zu verschaffen, damit sie nicht
dauernd an Mackinnon dachte. Bei ihrer Ankunft fanden
sie den Hof in einiger Unordnung. Die Glaser verließen
das Atelier, und die Innenausstatter brachten Material
und Werkzeug herein, um am Montag in der Frühe
sogleich mit der Arbeit beginnen zu können. Es war ein
Kommen und Gehen von Handwerkern, die sich
regelmäßig im Weg standen, bis selbst Websters Nerven
schließlich blank lagen. Sally zeigte Isabel, wo sie
untergebracht werden sollte: ein gemütliches kleines
Zimmer unterm Dach mit einem Gaubenfenster, von dem
die ganze Straße zu übersehen war. Isabel saß auf dem
Bett, immer noch das Nadelkästchen in den Händen, und
sagte: »Sally?« Sally setzte sich neben sie. »Ja?«
»Ich darf nicht hier bleiben. Nein --- hör mir zu --- du
musst mich gehen lassen. Ich bringe nur Unglück ---«
Sally lachte, doch Isabel schüttelte leidenschaftlich den
Kopf und ergriff ihre Hand. »Nein! Lach nicht! Schau
nur, was meinetwegen schon alles passiert ist und wer
darunter zu leiden hatte --- meine Zimmerwirtin, du---
dein Hund --- das ist alles meinetwegen, Sally, glaube
mir! Wo ich bin, gibt es nur Unglück. Über mir liegt ein
Fluch. Du musst mich gehen lassen. Ich finde ein stilles
Plätzchen irgendwo auf dem Land. Ich kann unmöglich
bei dir und deinen Freunden bleiben, ich bringe euch nur
Scherereien... «
»Ich glaube keinen Augenblick, was du da erzählst.
Ganz im Gegenteil, dich hat der Himmel in diesen Laden
geschickt. Die suchen hier händeringend nach einer
Buchhaltungskraft. Ich weiß, dass das nicht deine stärkste
Seite ist, aber wenn du uns eine Weile lang aushelfen
könntest, wärest du Gold wert. Wirklich, Isabel, ich habe
diese Aufgabe nicht aus Mitleid für dich erfunden --- die
Arbeit muss einfach getan werden. Ich weiß, dass dich
die Nachricht über Mr. Mackinnon schmerzt. Aber mit
der Zeit wird der Schmerz nachlassen und bis dahin
brauchen wir dich hier. «
Schließlich gab Isabel nach; zum Streiten hatte sie
sowieso wenig Kraft. Sie bat, ihr zu zeigen, was sie tun
solle. Und dann machte sie sich, blass und still wie eine
Gefangene, an die Arbeit. Sally machte sich Sorgen.
Doch sie hatte keine Zeit, darüber mit Frederick zu
sprechen, denn kaum war er von Mr. Temple
zurückgekommen, da kam Jim herein.
»Ich habe Mackinnons Adresse«, verkündete er. »Er
wohnt in Hampstead. Wir müssen ihn sofort holen, Fred.
Nimm am besten deinen Stock mit... «
Das Haus Kenton Gardens 15 war eine schmucke kleine
Villa in einer baumgesäumten Allee. Den beiden
Freunden wurde die Tür von einer Frau mittleren Alters
geöffnet, vermutlich der Zimmerwirtin,

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