Der Schatten im Wasser
muss hinfahren … ins Krankenhaus …«
»Sie liegen doch immer im Rucksack«, rief sie. »Vielleicht liegt der Rucksack im Auto. Tommy, du hast doch mehrere Schlüssel, oder? Zwei hast du doch, nicht wahr? Einen Ersatzschlüssel? Wo ist der Ersatzschlüssel, sag es mir, ich hole ihn.«
»Ich weiß nicht«, röchelte er. »Ich erinnere mich nicht.«
»O nein, du kannst nicht fahren, es ist gefährlich, du bist krank.«
Er klammerte sich an ihr fest, während Schleim und Rotz aus seiner Nase drangen.
»Ich rufe einen Krankenwagen!«, schrie sie ihm direkt in das völlig überhitzte Ohr, »du musst nur loslassen, dann rufe ich einen Krankenwagen.«
Er hörte nicht, verstand nicht, schwankte nur monoton hin und her und hielt seine Arme wie ein Ertrinkender fest um sie geschlungen. Er bekam immer weniger Luft, bald würden die Krämpfe einsetzen, und bald würde es zu spät sein. Dann ließ er sie plötzlich los, sank auf die Knie und wankte vor und zurück, zog an der Haut über seinem Kehlkopf, als würde er dadurch mehr Luft bekommen.
»Geh und ruf an …«, flüsterte er.
Sie stand auf.
»Ja, ich rufe an.«
Er nickte verzweifelt, warf seinen Kopf hin und her und stöhnte.
Sie ging in die Diele. Das Telefon stand auf einem kleinen Tisch unter dem Spiegel. Sie sah sich selbst im Spiegelglas, sah ihre Augen. Sie leuchteten geradezu, ein seltsames, klares Leuchten.
Sie hob den Hörer ab und tat so, als wählte sie eine Nummer. Eine kurze Nummer mit nur drei Ziffern. Sie stellte sich vor, wie eine Stimme am anderen Ende der Leitung unmittelbar antwortete. Eine weibliche Stimme in einer Notrufzentrale irgendwo im Zentrum von Stockholm. Durch die Tür zur Küche sah sie ihren Mann auf dem Boden knien und seinen Körper in heftigen Spasmen hin- und herwerfen.
»Wir brauchen einen Krankenwagen«, sagte sie laut, so laut, dass auch er es hören konnte. »Es geht um meinen Mann, er hat einen allergischen Schock erlitten. Bitte, beeilen Sie sich. Es geht um sein Leben.«
In ihrem Ohr erklang dasselbe monotone Tuten, das man für gewöhnlich hört, wenn man einen Telefonhörer abhebt.
Sie nannte ihre Adresse und ließ etwas Zeit vergehen.
»Ja, das stimmt so weit«, rief sie dann und fügte mit schluchzender Stimme hinzu:
»Sie kommen doch schnell, oder? Danke, es ist wichtig, sehr wichtig.«
Sie legte den Hörer auf und ging zurück in die Küche. Beugte sich über ihn, massierte seinen Rücken und seine Schultern. Er rollte den Kopf hin und her, es blitzte vor Angst in den schmalen Schlitzen, hinter denen sich seine Augen befanden.
»Sie sind unterwegs«, sagte sie feierlich. »Jetzt müssen wir nur noch warten.«
Sie kroch dicht zu ihm und ergriff seine Hand, die nass und verschwitzt war und in kleinen, schnellen Krämpfen zuckte.
»Es wird alles gut werden, alles wird gut.«
Mit einem gewaltigen Kraftakt warf er sie erneut zu Boden und umklammerte ihren Oberkörper, sodass es in ihren Rippen knackte. Warf sich mit einem nahezu tierischen, qualvollen Brüllen über sie.
»Tommy, sei so gut«, flehte sie, »nicht so, nicht so.«
Er beruhigte sich ein wenig, hielt sie aber weiterhin mit festem Griff umklammert.
Sie blieben eine Weile so liegen. Sie lag mit der Wange gegen den kühlen Fußboden gepresst, auf einmal müde, völlig erschöpft.
Da bemerkte sie plötzlich eine Gestalt in der Diele. Es war Christa. Sie kroch auf allen vieren wie ein angeschossenes, verletztes Tier.
»Mama!«, rief sie jammernd.
»Wir sind hier. Geh in dein Zimmer und warte.«
Christa reagierte nicht. Ariadne rief erneut:
»Ich kann nicht. Geh zurück in dein Zimmer und warte.«
Immer noch keine Reaktion. Mit der Wange an den Boden gedrückt sah sie, wie ihre Tochter sich zielstrebig an der Fußbodenleiste entlang vorwärtstastete und ihre sensiblen Fingerspitzen sich der Telefonschnur näherten. Die rundlichen, immer noch ziemlich kindlichen Hände folgten der Schnur bis hinauf zum Hörer, ergriffen ihn und hoben ihn ab. Es war ein großes, einfaches Telefon, das sie mit Rücksicht auf Christa angeschafft hatten. Tommy hatte ihr beigebracht, es zu benutzen, die drei lebenswichtigen Ziffern, die man in einer Notsituation wählen musste, einzutippen, während sie selbst dalag, eingeklemmt und gefesselt unter Tommys Körper, seinen rasenden Herzschlag spürend, und mit ungewohnter Deutlichkeit sah, wie ihre Tochter genau diese Ziffern eintippte.
EIN PAAR TAGE SPÄTER rief Micke erneut bei Kevin an. Seine finanzielle Lage
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