Der Schatten im Wasser
unbeschwertes, aber gleichzeitig überraschendes, verwirrendes Gefühl.
»Verboten? Wer entscheidet das?«
»Du weißt, verdammt noch mal genau, was ich meine.«
Sein hageres Gesicht wurde hässlich und hilflos, aus seinen Ohren lugten kleine Haarbüschel. Sie breitete die Arme aus, sodass sich ihre Brustwarzen an dem Stoff ihres Pullis rieben und fest wurden und glühten.
»Du siehst wie ein Troll aus«, flüsterte sie. »Weißt du das?«
Er kratzte sich im Nacken und an den Handgelenken.
»Ein großer, wuscheliger Troll! Aber ich hab dich so schrecklich gern. Komm und leg dich ein bisschen zu mir, Lieber, wärme mich. Ich friere so, dass ich beinahe sterbe.«
Er tat es, schließlich tat er es. Ihre Hände waren so stark. Er war alt, und sie war jung. Sie brachte ihn zum Lachen und zum Weinen.
»Eins musst du wissen«, rief sie laut zur Zimmerdecke hoch, so laut, dass die Katze erschrocken durch die Klappe an der Tür entwich. Sie war nackt und saß breitbeinig auf seinem Schoß. Er schloss die Augen und senkte seinen Kopf.
»Stina, Stina, was sagst du?«
»Ich sage, dass ich dich niemals verlassen werde!«
Und dennoch brach sie ihr Versprechen. Es war zu Beginn des Sommers. Sie zog mit ihrem Vater und Flora hinaus auf die Insel. Sie wohnten in einem der Häuser ihrer Großeltern. Die Großeltern waren woanders. Sie waren ständig woanders, denn sie besaßen verschiedene Häuser in unterschiedlichen Teilen der Welt.
Dort draußen auf der Insel bekam sie den ersten heftigen Wortwechsel zwischen ihrem Vater und Flora mit. Denn Flora hatte ihren Adlerblick auf Justines Körper gerichtet und festgestellt, dass er dabei war, sich zu verändern. Nicht so, wie er sich bei allen jungen Mädchen verändert, nicht so. Sondern weitaus schlimmer, in tragischer Weise. Etwas, das sich ihrer beider Kontrolle entzog, war geschehen. Etwas, das auch sie betreffen würde. Wenn sie es nicht verhinderten!
Justine war in einen dämmerartigen Zustand geglitten und hörte nur von ferne, wie Flora schrie und etwas von zu engen Mädchenbecken von sich gab. Ihr Vater, ein eher stiller und ausweichender Typ, brauste plötzlich auf. Für eine kurze Zeit hatte Justine das Gefühl, als sei es nun vorbei, dass Flora sie beide verlassen und nicht wiederkehren würde. Dass sie all ihre Kostüme und Schuhe und Nagellackfläschchen zusammenpacken und verschwunden sein würde, wenn Justine und ihr Vater wieder nach Hässelby zurückkämen.
Sie machte sich tatsächlich auf den Weg. Stieg an Bord des Dampfschiffes und fuhr los. In die Stadt reiste sie, zu ihrer Schwester Viola, die bei NK Kosmetik verkaufte.
Es war ein geruhsamer Sommer mit warmen Tagen, an denen es nur in den frühen Morgenstunden regnete. Justine lag überwiegend in der Hängematte und döste, sie hatte nie zuvor eine so ermattende Müdigkeit verspürt. Im Haus war ihr Vater dabei, umzubauen, seine Hände waren nicht an den Umgang mit Werkzeugen gewöhnt, doch er schien zufrieden, und das Geräusch der Hammerschläge lullte sie ein.
Sie redeten selten miteinander. Zwischen ihnen hatte es nie viele Worte gegeben. Er kam manchmal zu ihr, stellte sich neben die Hängematte und gab ihr Schwung, setzte sie in Bewegung.
»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Mädchen?«
Sie lächelte stumm, und er nickte:
»Wir schaffen das schon, wir schaffen das.«
»Ja, Papa. Das tun wir.«
Als der Sommer vorbei war, fuhren sie nach Hause. Flora war wieder bei ihnen, sie war mit dem Schiff zurückgekommen. Justines Vater war zum Anleger gegangen, um sie in Empfang zu nehmen. Sie sah, wie sie ihre Hände ineinander verschränkten, doch es berührte sie nicht länger.
Die Schule hatte wieder angefangen, aber Justine ging nicht hin. Sie ging nie wieder zurück in die Schule.
Danach bestand ihre Erinnerung nur noch aus Fragmenten:
Floras Finger, die sie wuschen, das Geräusch der Schere an ihren Ohren. Und dann die Nacht, in der ihr Kind sich entschloss, geboren zu werden. Während all der langen Stunden befand sich ihr Vater an ihrem Bett und ließ sie nicht allein. Seine Stimme war ruhig, während sein Blick ängstlich, aber entfesselt war:
Du wirst das durchstehen, ich werde dir helfen!
In der Morgendämmerung war alles vorbei.
Das Kind lebte vier Tage und Nächte. Es war so winzig und viel zu früh geboren.
SIRENEN, EINDRINGLICH UND SCHRILL, sie kamen immer näher, immer dichter. Tommys Arme hatten inzwischen jegliche Spannung verloren, er lag nach vorn über sie
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