Der Schatten im Wasser
Stimme.
»Gunnar starb vor neun Jahren. Seitdem muss ich allein schlafen.«
»Oh, woran ist er denn gestorben?«
»Das Alter.«
»Aha.«
»Er war älter als ich, bedeutend älter, er war sozusagen an der Reihe. Aber das spielt keine Rolle. Ich vermisse ihn sehr.«
Es erstaunte Justine, dass sie so gesprächig war. Sie hatte das Gefühl, dass Britta Santesson eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte, es aber nicht herausbrachte.
Jetzt kam ein Paar mittleren Alters in den Frühstücksraum. Sie hielten einander an der Hand und blickten sich unsicher um. Britta machte eine Geste zu einem der freien Tische hin. Sie räumte die benutzten Teller und Kaffeebecher ab. Dann stellte sie fest, dass kein Kaffee mehr da war, und beeilte sich, neuen zu kochen.
Justine aß zu Ende und ging zurück in den Raum, in dem sie geschlafen hatte. Der Vogel flog hoch, als er sie erblickte, und setzte sich auf ihre Schulter. Er steckte seinen Kopf hinter ihr Ohrläppchen und gurrte zufrieden. Hans Peter kam herein.
»Sollten wir nicht bald fahren?«, fragte sie. »ich mache mir Sorgen wegen des Hauses.«
»Ja. Es wird nicht mehr lange dauern. Aber die letzten Gäste müssen erst noch auschecken. Es sind nur ein paar, die anderen bleiben mehrere Tage.«
Das Hotel hatte seine eigenen Regeln. Allerspätestens um neun Uhr musste man auschecken. Die meisten Gäste wussten das, und weil viele Touristen sowieso jede Minute in der Hauptstadt ausnutzen wollten, gab es selten Probleme.
Sie setzte den Vogel zurück auf die Stuhllehne und legte ihre Arme um Hans Peter.
»Du siehst müde aus, Liebling. Verzeih, dass ich gekommen bin und dir den Nachtschlaf geraubt habe.«
Er küsste sie, doch er wirkte dabei etwas steif und gedankenverloren. Es klingelte am Tresen. Er entzog sich ihrer Umarmung und verließ den Raum. Justine sank auf die Pritsche und blieb dort sitzen. Die Tür war angelehnt, und sie hörte, wie ein Gast auschecken und bezahlen wollte. Er sprach in gebrochenem Englisch.
»But I don’t understand! You say not accept credit cards?«
Hans Peters ruhige, weiche Stimme, wie sehr sie ihn wegen seiner Geduld liebte.
»Es tut mir leid, Sir, aber ich meine, wir hätten Sie bei Ihrer Ankunft über diese Regelung aufgeklärt. In diesem Hotel nehmen wir nur Barzahlung. Sorry.«
»Was sind denn das für steinzeitliche Geschäftspraktiken, alle nehmen doch heutzutage Kreditkarten? Oder ist Schweden etwa ein Entwicklungsland? Vielleicht möchten Sie ja sogar mit Glasperlen bezahlt werden.«
Hans Peter lachte höflich.
»Es tut mir leid, Sir, aber sehen Sie hier auf die Hinweisschilder. No credit cards.«
»But why the hell?«
»Es gehört zur Philosophie dieses Hotels: sehr persönlich, traditionsbewusst und mit einem aufmerksamen Service in einer schnelllebigen Zeit. So gut wie alle unsere Gäste pflegen das zu schätzen.«
»Und wenn man kein Bargeld bei sich hat?«
»Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite gibt es einen Geldautomaten. Es tut mir leid, dass Sie sich die Mühe machen müssen.«
Der Mann brummelte etwas, woraufhin sie eine Frauenstimme vernahm, die ihn offensichtlich zu überreden versuchte, denn sie schnappte das Wort charming auf. Im Stillen stellte sie sich die Frage, wie lange Ulf Santesson diese knallharte Linie mit seinem Hotel noch würde durchziehen können. Sie erschien ihr sowohl unpraktisch als auch unzeitgemäß.
»Okay!« Hans Peter rief ihr zu, dass er bereit war zu gehen. Justine stand auf, um den Vogel in den Schal zu wickeln, als sie hörte, dass jemand kam. Abwartend ging sie hinaus zum Tresen.
Einmal zuvor hatte sie Ariadne bereits getroffen, doch das war lange her. Als sie jetzt in das Gesicht der kräftig gebauten Frau blickte, erfasste sie ein Schwindelgefühl. Hans Peter hatte sich vor die Eingangstür gestellt, wie um einen unsichtbaren Feind am Eindringen zu hindern. Er stand völlig steif da, den halb geöffneten Mund zu einem lautlosen Schrei geformt.
»Hej«, murmelte Ariadne. Ihre Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt, und obwohl sie versucht hatte, ihre Blessuren zu überschminken, konnte man deutlich erkennen, wie stark misshandelt sie war. Das ganze Gesicht wirkte irgendwie schief, fast verschoben, und ihr eines Auge war vollständig zugeschwollen. Ihr Haar hing in Strähnen herab.
Hans Peter ging über den schwarzweiß gefliesten Steinboden auf sie zu. Mit zusammengezogenen Augenbrauen stellte er sich vor Ariadne und fixierte sie mit seinem Blick. Sie
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