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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Saur
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orangen Dreisitzbänke unter den gerahmten U-Bahn-Plänen der fünf Stadtbezirke. Ein Mann in einem abgenutzten Anzug las die »Times«. Er faltete die Seite herunter, und in der linken Ecke erschien die mittelgroße Überschrift: »Frau überlebt wie durch ein Wunder Hochspannungsunfall auf der Fifth Avenue – Con Ed muss sich Vorwurf der lebensgefährlichen Nachlässigkeit gefallen lassen«. Als die U-Bahn an der West 4th Street quietschend zum Stehen kam und ich wartete, bis die Türen sich öffneten, sah ich die Zeitung mit der Schlagzeile über Claire auf dem Sitz liegen. Ich dachte daran, sie zu nehmen, doch da begannen sich die Schiebetüren zu schließen. Ohne die Zeitung sprang ich hinaus und stolperte über den Fuß eines Mannes auf dem Bahnsteig. Ich berührte ihn nur leicht mit der Spitze meines Schuhs, aber es reichte aus, ihn zum Taumeln zu bringen. Eine Sekunde lang versuchte er mit aller Kraft seine Balance wiederzugewinnen. Dann fiel er zu Boden und rutschte einige Zentimeter auf seinem glatten Anorak. Ich machte mich auf seine Wut gefasst. Aber als ich mich umdrehte und das ängstliche Gesicht eines Mannes mittleren Alters sah, schmerzverzerrt und mit einer Zahnlücke im geöffneten Mund, ging ich zwei Schritte auf ihn zu und streckte meine Hand aus, um ihm zu helfen. Er ergriff meine Hand zögernd, während ich mich ausgiebig entschuldigte. Der Mann vermied den Augenkontakt und wirkte beschämt, als er einen Riss in seinem Anorak abtastete. Ich fühlte mich schuldig und bat ihn zu warten, während ich meine Adresse auf eine alte Restaurantquittung schrieb, die ich in meiner Jackentasche fand. Er hielt das Papierchen wie eine benutzte Serviette vorsichtig zwischen den Fingern. Dann verstaute er es in seiner Hosentasche und eilte davon. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich war überzeugt, eine gehetzte, ängstliche und gealterte Version von mir selbst umgerannt zu haben.
    Es war schon fast Mittag, als ich den Buchladen Partners in Crime auf der Bleecker Street betrat, einen halben Straßenblock vom St. Vincent’s Hospital entfernt. Eine schwache Spätmorgensonne fiel durch die schmierigen Fenster des Ladens, der leicht säuerlich nach gegorenem Papier roch. Meine Schuhe versanken im schmuddeligen Teppich. Ein Buchhändler mit Krokodilshaut saß mit geschlossenen Augen hinter der Kasse. Drei offene Bücher lagen vor ihm. Ich ging direkt in die Abteilung mit den fremdsprachigen Krimiautoren und fing an, nach etwas zu suchen, das Claires Zustimmung finden würde. Ich stieß auf einen südamerikanischen Krimiautor, den Verfasser eines erfolgreichen Romans über Evita Perón, und erinnerte mich an eine lobhudelnde Rezension, die den Autor mit Graham Greene verglichen hatte. Das nächste Buch, das meine Aufmerksamkeit erregte, stammte von einem karibischen Schriftsteller. Ich mochte den Titel: »Drei dunkle Tiger«. Der Schutzumschlag zitierte jemanden mit einem indisch klingenden Namen. »Eine profunde Geschichte über Leidenschaft und Liebe. Der erste Roman eines alten Mannes«, stand da. Ohne die Inhaltsangabe auf der Rückseite fertig zu lesen, ging ich damit zur Kasse. Im Blumenladen nebenan kaufte ich noch jeweils einen Strauß gelber und roter Tulpen.
    Eine Frau stand mit dem Rücken zu mir in Claires Krankenzimmer. Sie war breit gebaut, mit kurzem, gebleichtem Haar, das gerade geschnitten war wie ein Stück helles Holz. Claire saß in ihre Decke gehüllt mit leerem Gesicht im Bett. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, drehte sich die Frau um und lächelte mich mit offener Neugier an. Ich wusste sofort, dass ich Erika Edelweiss in die Arme gelaufen war und murmelte »falsche Etage«. Dann schloss ich die Tür hinter mir und eilte zurück zum Fahrstuhl, drückte den Knopf für den ersten Stock und folgte den Schildern in die Cafeteria.
    Erst später war ich seltsam überzeugt, dass dies der Moment war, in dem sich alle Geheimnisse zu lüften begannen, der Augenblick, in dem sich alle Fäden zu entwirren begannen, wenn auch aus einem Grund, der sehr viel dunkler war, als ich ahnte.
    Was ich über Erika Edelweiss wusste, wusste ich von Claire. In Berlin hatte sie sich einen Namen als Literaturagentin gemacht, aber mit der Zeit war ihr ihr eigener Erfolg langweilig geworden. Sie hatte hauptsächlich Autoren von Wirtschaftsbüchern und Biografen von Vorstandsvorsitzenden vertreten. Bei der Suche nach neuen Herausforderungen hatte sie beschlossen, nach New York zu ziehen, um amerikanische

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