Der Schatten von nebenan - Roman
schließen und eine neue Welt erfinden, die mir besser gefiel. Diesmal konnte ich den Kurs nicht bestimmen. Es war, als ob sie sagte, ich dürfe dieses Mal das Geschehene nicht überarbeiten.«
Einen Moment lang schien er über seinen eigenen Gedanken überrascht, zog erneut an der Zigarette, deren Rauch dick durch die Dämmerung schwebte.
»Jedenfalls erzählte sie uns in allen Einzelheiten, was passiert ist. Für Kate wurde sie in dem Moment wieder ihre kleine Tochter, und sie begann mit ihr in Mandarin zu sprechen. Ich bat sie aufzuhören, da es für keinen von uns hilfreich war, diese Verkindlichung, diese Rückkehr in etwas Vergangenes, etwas Verlorenes. Wenn Greta gelogen hätte, wäre es für mich leichter gewesen, sie für das zu hassen, was sie getan hatte. Aber ich denke, Hass ist das falsche Wort hier. Denn Hass ist in unserem Fall nicht wirklich möglich. Ein Pärchen kann einander hassen, alle Liebe füreinander verlieren und überrascht sein, wenn die Zärtlichkeit sich doch noch beim gemeinsamen Kind begegnet. Ja, Greta blieb bei der Wahrheit. Die Glassmans erhielten eine Nachricht per Post, eingeworfen in einem Postkasten im Grand Central Bahnhof. Darin stand, dass das Geld abgeholt werden würde. Über das Wann und Wo würden sie bald informiert werden. Die Mitteilung war aus Buchstaben der »New York Times« zusammengesetzt, die auf das Papier geklebt waren, und es wimmelte darin nur so von Rechtschreibfehlern. Diese Fehler platzierte Greta mit Absicht. Dann, vor zwei Nächten, zur richtigen Zeit, machte Greta einen Anruf im Laden der Glassmans auf der Seventh Avenue. Jeden Tag schloss der Mann dort um dieselbe Zeit ab. Greta wusste, dass keine Polizei dort sein würde, dass selbst für den Fall, dass die Polizei alle Haustelefone der Glassmans überwachte, sie nicht alle Ladennummern abhören würde. Greta sprach durch ein Taschentuch. Sie fragte nach Mr. Glassman. Der Kassierer reichte den Hörer an Priscillas Vater weiter. Trotz der für ihn schmerzlichen Situation, in der er seine Tochter wähnte, bewahrte er Haltung. Er ist die Art von Mann, die das für Charakter hält. Ihm wurde von Greta mitgeteilt, er solle sofort nach Hause gehen, das Geld und sein Auto abholen, das er in einer Garage zehn Straßenblocks entfernt von ihrem Backsteinhaus nahe dem Prospect Park parkte. Ihm wurde angeordnet, zur U-Bahn-Station auf der 14th Street zu fahren, sein Auto dort abzustellen und die Linie L nach Canarsie zu nehmen. Im Bahnhof von Canarsie gibt es eine öffentliche Toilette. Solche öffentlichen Toiletten sind selten in New York City. Es ist eine lange Fahrt in der U-Bahn von Manhattan nach Canarsie, und Leute gehen regelmäßig in den öffentlichen Toiletten ein und aus, bevor sie den Bahnhof verlassen.«
Er machte eine Pause, drückte die verloschene Zigarette in den Aschenbecher.
»Greta hatte Mr. Glassman gesagt, er solle das Geld in der Herrentoilette lassen. ›Legen Sie es in den Mülleimer neben dem Waschbecken‹, hatte die Stimme am Telefon befohlen, ›und bedecken Sie es mit zerknüllten Papierhandtüchern. Und dann gehen Sie nach Hause.‹ Natürlich wollte Mr. Glassman wissen, wie er anschließend seine Tochter finden würde, aber da hatte Greta bereits aufgelegt. Priscillas Vater hatte das Geld schon unter dem Vordersitz seines Lexus verstaut. Er hatte genau zugehört, aber auf eine seltsam trotzige Art sah er keinen Grund, die U-Bahn zu nehmen und fuhr den ganzen Weg zur U-Bahn-Station Canarsie im Wagen. Obwohl er aufmerksam zugehört hatte, handelte er irgendwie gedankenlos, sonst hätte er verstanden, dass er vielleicht aufgrund des Verkehrs zu spät kommen könnte, wenn er das Auto nahm. Dass er Gefahr lief, den gesamten Zeitablauf der Entführer durcheinander zu bringen. Man kann nicht sagen, dass er Glück hatte, denn am Ende verließ ihn sein Glück, aber trotzdem schaffte er es rechtzeitig zur Geldübergabe. Er muss so gegen acht Uhr dort angekommen sein. Er parkte den Wagen vor der U-Bahn-Station, ging in die Herrentoilette, sperrte sich in eine der Kabinen, und als der Raum leer erschien, legte er das Geld wie befohlen in den Mülleimer, zerknüllte Toilettenpapier und bedeckte die Tasche. Dann ging er zurück zum Auto, wartete einige Minuten, hin- und hergerissen, was er tun sollte, doch dann siegte das, was er für Vernunft hielt, und er fuhr zurück. Greta hatte beobachtet, wie er in die Toilette ging. Sie hatte sich als Junge verkleidet. Sie hatte ihr Haar unter eine
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