Der Schatten von nebenan - Roman
Kappe geklemmt. Sie trug Jeans und ein Hemd und eine zu große Jacke. Nachdem Mr. Glassman gegangen war, schlüpfte Greta in die Herrentoilette, fischte das Geld aus dem Mülleimer und sprang wieder in die U-Bahn. Sie nahm die Linie L drei Stationen weiter zur Livonia Avenue. Sie wechselte mit dem Geld zur Linie 1 und 2, die sie nach Park Slope zurückbrachte. Die ganze Angelegenheit vom Anruf bis zu ihrer Rückkehr hatte nur eineinhalb Stunden gedauert, nicht mehr. Ich hatte an dem Nachmittag eine Lesung in einem Buchladen auf der Upper East Side, an der Ecke Lexington und 52nd Street. Kate begleitet mich regelmäßig zu den Lesungen. Ich hab die Angewohnheit, meine Termine an den Kühlschrank zu hängen.«
Er nickte zur Küche mit ihren stählernen Haushaltsgeräten, die neu glänzten.
»Greta erinnerte sich an meine Lesung an dem Tag. Sie war sicher, ich würde nicht zu Hause sein, wenn sie heimkäme. Immer noch in Verkleidung, gab sie dem obdachlosen Mann an der Ecke Seventh Avenue und President Street fünf Dollar, damit er an unserer Tür klingelte. Er war eine gute Wahl, denn er ist zuverlässig vergesslich. Sein Erinnerungsvermögen hält nicht länger als eine Minute oder zwei. Wenn entgegen ihrer Erwartung jemand geöffnet hätte, hätte er einfach nach Geld gefragt, so wie er es manchmal tut, und er macht es so selbstverständlich, dass die Menschen nicht wirklich böse darüber sind. Der Obdachlose tat wie ihm geheißen. Er ging hoch, klingelte und wartete. Niemand antwortete und Greta gab ihm seine fünf Dollar. Um sicherzugehen, rief sie von einer Telefonzelle aus an. Dann schlich Greta durch den Hintereingang ins Haus, versteckte das Geld im Kamin und eilte zurück in das leere Apartment, wo Priscilla wartete. Die Nacht brach schon herein. Das Mädchen muss nervös und begierig gewesen sein zu hören, was geschehen war. Und dann log Greta. Sie sagte Priscilla, dass ihr Vater nicht gekommen sei. Dass die Dinge nicht gut gelaufen seien. Sie erzählte ihr, es gäbe kein Lösegeld. Ich weiß nicht, ob Priscilla sich betrogen fühlte.«
Amos machte eine Pause, seine längste bis jetzt, und seine Finger wanderten wieder hinauf zu seinen Schläfen.
»Aber Greta sagte Priscilla, dass sie die Geschichte aufrecht erhalten müssten, dass sie nun nicht aufgeben dürften. Noch sei nichts verloren, sagte sie. Sie würden nun den Druck auf Priscillas Vater erhöhen, und dass sie sofort damit anfangen müssten, und sie habe auch schon einen Plan. Sie würden bis nach Mitternacht warten und dann in den Park schleichen, diesmal beide als Jungs verkleidet, mit ihren Baseballkappen, die Greta ihr später abnehmen sollte. Greta würde eine Sofortbildkamera mit Blitzlicht mitbringen und sie würde Priscilla an einen Baum binden und ein Foto von ihr machen. Das Foto würde das Geld aus Priscillas Vater doch noch herauspressen. Sie würde sie dazu allerdings knebeln müssen, und sie würde ein schmutziges Handtuch dafür nehmen. In dieser Nacht, in dem Buchladen in Manhattan, las ich aus meinem Buch »River Blue«. Erst wollte ich die Lesung wegen Greta absagen, doch dann schien es mir eine gute Gelegenheit, mich nicht ganz zu verlieren. Ich stoppte später in meinem Büro die Zeit, denn ich wollte genau wissen, welche Zeilen ich gerade las, als sich die Ereignisse abspielten. Es war eine nutzlose Übung. Mein Tag hatte schon geendet, als diese Tragödie ihren Lauf nahm. Ich saß müde in unserem Wohnzimmer mit einem letzten Drink, als das Mädchen starb. Um Mitternacht schlichen die verkleideten Mädchen aus der Wohnung vorbei an unserem Haus zum Park. Da waren Kate und ich schon im Bett. Es war diese unglaublich klare Nacht. Ich erinnere mich an Nächte. Ich erinnere mich besser an sie als an die Tage. Es war ein dunkelblauer Himmel. Ein Spätnachmittagsblau, das sich einfach geweigert hatte, vom Sonnenuntergang mitgenommen zu werden und bis Mitternacht weilte, erleuchtet von den Sternen und dem Mond. Jedenfalls gingen sie in diese wundervolle Nacht zusammen, nur ein Seil, ein Handtuch und die Kamera bei sich. Alles muss dann sehr schnell passiert sein. Ein Verbrechen zu planen ist zeitaufwändig, aber die Durchführung muss rasch vonstatten gehen. Sie schlichen sich in den Park und fanden einen Baum. Eine Buche, als ob das wichtig gewesen wäre. Priscilla schob die Festigkeit, mit der Greta das Seil um ihre Hände band, wohl Gretas Eifer zu. Priscilla öffnete pflichtbewusst den Mund, nicht wissend, mit welcher Gewalt
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