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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Saur
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diesen verbrannten Geruch zu erzeugen. Ich verbrannte Bonbonpapier. Ich verbrannte Toilettenpapier und die Pappendeckelrollen. Wir hatten diesen Plan gehabt, hatten alles darauf gesetzt. Und plötzlich sah ich uns, alles, was wir immer erreichen hatten wollen, im hellsten aller Lichter. Wir waren von allem ausgeschlossen. Haben versucht, das Buch zu veröffentlichen, das du nicht geschrieben hast. Ich hatte das Gefühl, dass wir vom Weg abgekommen waren. Ich hatte Angst, in unser Haus zurückzukehren. Es ängstigte mich. Als wären wir in ein Land gezogen, wo es immer nur kalt war, wo die Menschen selten sprachen. Ich wusste nicht mehr, wo ich hingehen sollte …«
    Mir war in dem Moment klar, dass es nutzlos war, sie zu fragen, warum sie nicht mit mir gesprochen hatte.
    »Manchmal will man einfach nur verschwinden, sich in dünne Luft auflösen«, fuhr sie fort, »ich hatte an dem Tag nicht gegessen. Ich fühlte mich schwach. Und dann, als ich zurückkam von dieser Konferenz in Chicago, mit all den Büchern, die es leicht haben in dieser Welt, war ich durcheinander, und als ich mit dem Kaffee zurück ins Büro ging, sah ich diese Menschen bei der Arbeit in ihren blauen Uniformen auf der Fifth Avenue, und sie wollten, dass ich hinüber auf die andere Seite ging, um mich außer Gefahr zu bringen. Ich hörte Schreie, es war, als ob sich plötzlich alles in Bewegung befände. Aber es war nicht die Platte, auf die ich trat. Ich fühlte mich einfach nur schwach und schwindelig und fiel. Einer der Arbeiter setzte eine der Metallplatten für einen Moment unter Strom. Die Männer sahen mich fallen und nahmen an, ich wäre vom Stromschlag getroffen worden. Ich war sofort von zehn Leuten umringt. Jemand legte eine Jacke unter meinen Kopf. Ich weiß noch, dass sie nach Waschmittel roch. Ich glaube, ich war für einen Moment ohnmächtig. Ich fühlte mich so gut, als ich meine Augen wieder öffnete. Etwas Schweres hatte plötzlich von mir gelassen. Ich fühlte mich erleichtert mit all den Gesichtern um mich herum. Und ich wollte nicht, dass es aufhörte. Ich fühlte mich, als wäre ich wieder ein Kind. Ich versäumte den Moment, an dem ich alles stoppen hätte können. Ich sagte nicht: Nein, ich bin gar nicht auf das Metall getreten. Und jetzt sind sie kurz davor, es herauszufinden.«
    Ich fühlte den Schweiß in meinen Handflächen. Ich suchte nach Kraft in mir selbst, nach einer Quelle, die die Wirkung der Neuigkeiten verringerte, so wie eine Medizin Kopfschmerzen vertreibt.
    »Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir uns kennen lernten?«, fragte Claire zögerlich.
    »An einem Herbsttag im Central Park«, sagte sie.
    Und ich dachte an den Winter, der folgte. Ich dachte an einen Tag im Central Park, und ich erinnerte mich plötzlich an Claires lustigen Fellhut mit den Hasen-Ohrenschützern. Ich dachte daran, wie wir den ersten Winter überstanden hatten und wie während des folgenden Frühlings unsere Liebe wuchs. Ich dachte an die Hundstage, acht Monate nachdem wir uns kennen gelernt hatten, in unserem alten Apartment in Brooklyn Heights, als wir so entspannt waren miteinander wie später nie wieder, als es so heiß und stickig war und wir den ganzen Nachmittag lang Budweiser mit Eiswürfeln tranken, im Fensterrahmen saßen und auf einen Windstoß warteten und nichts anhatten außer unserer Unterwäsche, und in einer friedlichen Benommenheit vor uns hinträumten, uns in eine Welt hineinträumten, die uns so voll von Versprechen schien. Ich dachte an das Hochgefühl, und es befiel mich eine Furcht, dass das der eine Moment war damals, und dass es keinen zweiten davon mehr geben würde.
    »Die Zeit läuft nicht rückwärts«, sagte Claire und klang tieftraurig. Einen Moment später war die Leitung tot.
    Ich saß eine Weile und bewegte mich nicht. Es gibt immer diesen einen Moment in der griechischen Tragödie, in dem sich alles, woran der Held glaubt, als falsch herausstellt. Was der Held nicht weiß – was die meisten Menschen nicht wissen – ist, dass dies auch ein befreiender Moment ist. Aber dann riss ich mich zusammen und versuchte, mich in einer Atmosphäre rasender Stille zu sammeln. Als wäre ich plötzlich von einem unsichtbaren Tier gestochen worden, das ein belebendes Gift ausschüttet, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer der Telefongesellschaft, um mich zurückverbinden zu lassen. Innerhalb von einer Minute hatte ich Claire wieder in der Leitung. Trotz ihrer Überraschung

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