Der Schatten von nebenan - Roman
fragte ich sie gerade heraus nach der Adresse der Klinik. Ich sagte ihr, dass ich bis spät in die Nacht brauchen würde, höchstwahrscheinlich bis zum nächsten Morgen, und ich sagte ihr auch, dass wir nicht nach New York zurückkehren würden, und dass sie all ihren Mut zusammennehmen sollte. Während ich hastig sprach, fühlte ich, wie etwas von meinen Schultern abfiel. Auch in ihrer Stimme hörte ich Erleichterung. Sie sagte immer und immer wieder ja. Der Name der Klinik war »Sun Air«. »Sun Air, hast du es aufgeschrieben?«, fragte sie aufgeregt. Ich kritzelte den Namen auf dasselbe Stückchen Papier, auf das ich die Telefonnummer geschrieben hatte. Die Adresse folgte, und ich las sie Claire noch einmal vor, um sicherzugehen. Für einen Moment und trotz allem, das an mir nagte, schienen die Dinge wieder im Lot zu sein. Ich glaubte, ich hätte eine echte Chance, mit Claire glücklich zu werden und das Leben zu führen, das ich mir immer vorgestellt hatte. Eine Million Dollar in bar in meinem Keller waren noch immer ein beflügelnder Gedanke.
Ich eilte hinauf, um nach dem Büchlein mit dem Flugplan von American Airlines vom LaGuardia- und vom John-F.-Kennedy-Flughafen zu suchen. Ich durchblätterte es mit der Intensität eines Schachspielers unter Zeitdruck. Da gab es einen Flug von LaGuardia nach Tucson um 21 Uhr an diesem Abend. Ein weiterer flog um 22:15 Uhr ab. Erst wollte ich eine kleine Tasche packen. Aber dann änderte ich meine Meinung und beschloss, nur das Geld zu nehmen. Es sollte in allem ein neuer Anfang werden. Dazu gehörte, alles zurückzulassen. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Schritte.
-11-
» I ch habe hier einen Durchsuchungsbefehl«, sagte Palmer vom Flur. Er stand mit seiner Sonnenbrille in der Hand in der hereinbrechenden Nacht. In Lichtgeschwindigkeit war er nach Park Slope gekommen. Neben ihm warteten zwei uniformierte Beamte. Palmer hielt ein sauberes Stück Papier in der Hand, das er nun wieder in Briefumschlaggröße zurückfaltete. Ohne ein Wort ging einer der Polizisten direkt in die Küche, während der andere sich an mir vorbeizwängte und die Treppe nach oben stieg. Der Officer, der sich die Küche vornahm, war jung, unter dreißig, hatte kurze Haare und runde Wangen. Er sah wie ein gewalttätiges Kind aus. Ich wusste nicht, ob Palmer sich nicht an der Suche beteiligte, weil er mich beobachten wollte, oder weil es nicht zu seinen Aufgaben zählte. Der Polizist oben war ins Badezimmer getreten. Der Officer aus der Küche, der seine Suche dort beendet hatte und nun seinen eigenen Instinkten folgte, stieg in den Keller, aus dem er nach weniger als einer Minute mit der Geldtasche in seinen Händen zurückkam. Er näherte sich dem sich versteifenden Palmer. Der Officer öffnete die Tasche und Palmer sah kurz hinein.
»Wir müssen das als Beweismittel mitnehmen«, sagte Palmer und sah den anderen Beamten an, der mit versteinerter Miene nickte.
Palmer nahm die Tasche in Verwahrung. Der blonde Polizist ging wieder hinunter. Kurz darauf kam er mit Gretas Sporttasche zurück.
»Sehen Sie sich das mal an, Detective«, sagte er, »als sie floh, hat sie die nicht mitgenommen.«
Palmer wandte sich mir nun direkt zu: »Hören Sie, Shelby, Greta machte heute Nachmittag eine Aussage … Gleich nachdem Sie anriefen. Selbst wenn Sie vernünftig erklären könnten, woher das Geld und die Tasche kommen, ist es nicht mehr an mir, Ihnen zuzuhören. Die ganze Sache liegt wirklich nicht mehr in meinen Händen. Mir bleibt nur noch, Sie zu verhaften. Sie müssen sich von nun an jemand anderem erklären.«
Palmer zog ein paar metallene Handschellen von seinem Gürtel, solche, die man in Filmen sieht, und sie fühlten sich überraschend kalt und schwer an. Der Polizist von oben kam mit leeren Händen aus dem Gästezimmer, seinen Kopf mit jedem knarrenden Schritt auf der Treppe duckend, während Palmer mir meine Rechte vorlas. Zum ersten Mal sah ich, dass er einen Tick hatte. Sein linkes Auge öffnete und schloss sich heftig, wie ein kleines Tier, das in eine Falle geraten ist und verzweifelt versucht, sich zu befreien. Ich fühlte eine plötzliche Nähe und Zuneigung und musste auch daran denken, wie er seinen Kopf neigte, wenn er zuhörte. Man erreicht ein Alter, wo man die schmeichelnde Schönheit von Menschen nicht mehr interessanter findet als ihre Eigenheiten. Es sind nicht die, die vom Leben unberührt scheinen, die glatten und gleichmäßigen Gesichter, die attraktiv sind, sondern
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