Der Schatten von nebenan - Roman
meine linke Seite, die sich feucht anfühlte. Es war, als würde diese Berührung mir die Verletzung erst ins Bewusstsein bringen, und sogleich spürte ich Übelkeit aufsteigen. »Sie haben da einen tiefen Schnitt. Ich glaube, Sie sollten nicht fliegen. Da sollte erst mal ein Doktor ran.«
Ich winkte schwach ab und versuchte gleichzeitig, der Frau meine andere Gesichtshälfte zuzuwenden. Das Ticket und der Boarding Pass lagen schon auf dem Schalter bereit, und ich griff nach den Dokumenten und machte mich auf den Weg. Für einen kurzen Augenblick war ich noch einmal in Schwierigkeiten, als einer der Beamten einem anderen auf die Schulter tippte, um auf mich zu deuten. Aber dann schienen beide sich mit einem Schulterzucken dafür zu entscheiden, mich keiner genaueren Sicherheitskontrolle zu unterziehen. Ich schaffte es fünfzehn Minuten vor Abflug zum Gate. Endlich an Bord, nahm ich in dem abgenutzten Ledersitz Platz. Mit dem Champagner reinigte ich meinen Mund. Da ich nichts hatte, wo ich ihn hätte hineinspucken können, und da die Sitzgurt-Warnlichter schon leuchteten, schluckte ich die warm prickelnde Flüssigkeit hinunter. Als das Flugzeug endlich zurücksetzte, war ich nervös und zitterte, aber ich war auch erleichtert und belebt von dem Adrenalin, das der Unfall in mir freigesetzt hatte. Für ein paar Minuten befanden wir uns in einem ständigen Rollen und Bremsen, bis wir endlich die Startbahn erreichten. Dann drückte mich die Kraft der Maschinen in den Sitz. Der Jet drehte südlich über Manhattan ab während er stieg, höher flog und plötzlich von völliger Dunkelheit umgeben war. Nur der ferne Mond auf unserer Rechten strahlte wässerig gelb. Ich war ein Flüchtiger geworden.
Ich öffnete meinen Gurt, nahm die Tasche mit dem Geld unter meinem Sitz hervor und ging auf die Toilette, um zu sehen, ob ich noch mehr Verletzungen erlitten hatte, die ich wegen des Schocks oder des immer noch pulsierenden Adrenalins in meinen Venen noch nicht bemerkt hatte. Ich verschloss die Tür und sah mein Gesicht im Spiegel an, das älter schien als noch vor einer Woche, mit tiefen Ringen unter den Augen. Etwas flackerte, und ich war mir nicht sicher, ob es das Neonlicht der Toilette war oder meine Augen. Aber ich spürte auch ein immenses Glücksgefühl, ich fühlte mich in der Luft leicht und unberührbar. Ich sprach zu meinem Spiegelbild, meine Stimme zitterte immer noch und klang durch den Lärm der Flugzeugmotoren und des Windes in meinen eigenen Ohren fremd. Dann zog ich mich komplett aus. Ich sah hinunter zu meinem Unterleib, auf meinen schlaffen Penis und meine glatten Beine. Ich fing an, mich selbst zu untersuchen und begann mit der Wunde an der Seite meines Kopfes. Ich wischte das Blut vorsichtig ab und legte einen Schnitt frei, der ungefähr drei Zentimeter lang war. Da war auch eine Wunde auf meinem Oberschenkel, die lang war, aber nicht tief, da sie nicht mehr blutete. Mein linker Ellbogen war angeschlagen und hatte sich in ein tiefes Blau verfärbt. Ich untersuchte meinen Mund, zog die Unterlippe hinunter, und in der Tat fehlten zwei Zähne. Ich versuchte ein Lächeln, nachdem ich mit einem feuchten Tuch etwas von dem hartnäckigen Blut von den verbliebenen Zähnen gewischt hatte. Die Lücken waren nicht sichtbar, da sie beide in der unteren Reihe waren. Ich fühlte den Schmerz in einem der beiden Zahnlücken schwächer werden. Meine Jeans hatte ein Loch an der Seite. Der dunkle Fleck an der Stelle war Blut, und meine Jacke war an einem Arm eingerissen. Ich wusch meine Hände mit viel Seife aus dem Seifenspender. Dann versuchte ich, mein Haar mit etwas warmem Wasser zu ordnen. Ich zog mich wieder an und kehrte zum Sitz zurück. Die Stewardess hatte ein Schinkensandwich und eine Schokoladenpraline auf meinem Sitz zurückgelassen. Ich aß ein paar Happen von dem Sandwich, kaute vorsichtig und unbeholfen, die Lücken in meinem Mund fühlend.
»Sie essen die Schokolade nicht?«, fragte jemand.
Ich drehte mich zu dem schlanken Mann in dem blauen Nadelstreifenanzug und der Tonsur.
»Hier«, sagte ich und gab die Praline meinem Sitznachbarn, eine längere Konversation fürchtend.
»Geschäftlich unterwegs?«, erkundigte er sich, während er das Silberpapier öffnete.
»Ja«, antwortete ich.
»Sind Sie Musiker?«, fragte er kauend.
»Musiker?«
»Sehen so aus.«
»Warum?«
»Nun. Das Aussehen.«
»Ja«, sagte ich, »ja, ich bin Musiker.»
»Sehen Sie, ich wusste es, ich wusste es gleich«, erwiderte er
Weitere Kostenlose Bücher