Der Schatten von nebenan - Roman
war entschlossen, nicht in Selbstmitleid zu verfallen, und wollte von nun an einen großen Bogen um alle Gedanken und Träumereien machen, die mich in meiner Entscheidung hätten behindern können. Ich beendete den Brief, und am selben Abend nahm ihn einer der Wächter mit und versprach, ihn aufzugeben. Ich wusste nicht, wie meine Worte ihren Weg zu Claire finden würden, ob die Nachricht von Park Slope aus weitergeleitet werden würde, oder ob Claire die Post im Haus auf der Carroll Street abholte – der Adresse, die ich auf den Umschlag geschrieben hatte. Aber wenn Claire nicht zurückschreiben würde oder sich nicht im Untersuchungsgefängnis blicken ließ, ging ich davon aus, dass sie sich besonnen hatte. Als sie tatsächlich nicht kam und nicht schrieb, deutete ich das als Beweis dafür, dass sie in sich selbst die nötige Kraft gefunden hatte, um ihr Leben ohne mich zu führen.
Erst war ich froh, doch dann überfiel mich Leere, ein quälendes, schleichendes Nichts. Jede Minute hielt vor mir an. Fast sichtbar schwebte sie dort und saugte mir den Sauerstoff weg, verlangsamte meinen Herzschlag.
Ein Anwalt war schneller in mein Leben und wieder hinausgetreten, als es dauert, eine Tasse Kaffee zu trinken. Er informierte mich, dass es ungefähr ein Jahr dauern würde, bis es zur Verhandlung käme.
Zu meiner Überraschung fing ich in Gedanken an, Zeit in den Autos meiner Kindheit zu verbringen. Ich befand mich wieder auf den Highways, kreuz und quer durchs Land rasend, und ich liebte die schnelle Fahrt durch die Leere, die mich von allen Ängsten befreite. Ich genoss das Hinunterrasen auf den endlosen Highways, die durch alle Arten von Landschaften führten und durch alle Jahreszeiten gingen.
Bald aber verbanden sich zwei Erinnerungsstränge zu einem, wuchsen und wanden sich ineinander. Ausgerechnet Randolph Durant saß neben mir in den Autos, um die Straßen durch jedes Wetter mit mir hinunterzurasen, fortwährend seinen Schatten auf mich werfend. Zuerst irritierte mich Durants Anwesenheit. Die langsam näher rückende Verhandlung würde sich ohnehin wie eine Lupe über die Ereignisse in Park Slope legen, und das war etwas, dem ich nicht unbedingt mit Freude entgegensah.
Dann aber geschah etwas Seltsames. Ich begann mich an Durant zu gewöhnen, wie man sich an einen Reisebegleiter gewöhnt, von dem man wenig weiß, und der einem zunächst störend wie ein Eindringling gegenübersitzt, den man aber nach ein paar Dutzend gemeinsam zurückgelegten Meilen angenehm findet. Ich habe die Fremden dieser Welt und ihre Bemerkungen oder Kommentare stets ernst genommen, so wie ich lang über den Mann im chinesischen Restaurant in Chinatown nachgedacht hatte, der wusste, wie man Gott zum Lachen bringt. Sie waren stets engelsgleich für mich gewesen, Besucher, die mir einen Moment der Wahrheit offenbarten. Durant war vielleicht so ein Engel, und ich beschloss, mich auf seine Spur zu begeben. Was hatte ihn so aufgeregt, dass er einen Roman mit Tatsachen durcheinander gebracht hatte? Sicher, Amos’ Buch »River Blue« war erfolgreich, es waren Zehntausende von Exemplaren verkauft worden, und es war offensichtlich auch richtig, dass einige Menschen eine Verbindung zwischen der ausgedachten Stadt und dem echten Heimatort von Durant hergestellt hatten. Doch im Grunde war ich überzeugt, dass das alles nur Wunschgedanken waren, die für die wahre Tragweite der Geschichte so unbedeutend waren wie die Farbe eines Buchrückens für seinen Inhalt. Aber was war es dann wirklich? Die Aufregung über Ähnlichkeiten zweier kleiner Städte, einer realen und einer erfundenen, und doch beide auf ihre Art verankert in der Größe und Gewalt dieser Welt? Warum hatte Durant sich entschlossen, David Amos zu besuchen? Bald wäre das Leben in dem wahren Ort in Florida weitergegangen wie zuvor, wie das Leben immer weitergeht, bis eine Art endgültiger Knall allem ein Ende setzt. Je mehr ich über den Mann nachdachte, desto weniger war ich überzeugt, dass Amos’ Buch der einzige Grund für Randolph Durants Reise war, dass es da noch um etwas anderes ging. Etwas, das in der Dunkelheit lauerte.
Je mehr ich in der Leere meiner Zelle über ihn nachdachte, desto mehr mochte ich den toten Durant allerdings auch, oder besser, desto mehr mochte ich das Wenige, das ich über ihn wusste. Dass er auf die Welt gekommen war, wusste ich, dass er mal ein jüngerer Mann gewesen war, jemand in meinem Alter, dass er wie wir alle einmal eine Zukunft besessen hatte
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