Der Schatten von nebenan - Roman
war. Wir küssten uns, wie wir uns noch nie zuvor geküsst hatten, und mir war, als ob ich nie wieder einen Kuss wie diesen würde fühlen dürfen. Ich hielt mich daran fest, klammerte mich an ihre Lippen, geradeso als müssten wir ertrinken, sobald ich losließ. Claire streichelte meine Wunde im Gesicht. Unser Liebesspiel war zärtlich und langsam, und ich genoss jeden Moment. Ich war glücklich und merkte, dass ich in der Vergangenheit nie wirklich gewusst hatte, was mir mehr Angst machte, meine oder ihre Enttäuschung. Nachdem wir uns geliebt hatten, schliefen wir nackt und nur teilweise von den Laken bedeckt ein. Ich wachte vor Claire auf. Es war Nacht geworden. In der Küchenzeile öffnete ich die zwei versiegelten Tüten mit dem weichen Brot und einer roten, Hotdog-ähnlichen Wurst und machte Sandwiches, die ich in der Mikrowelle neben dem Badezimmerwaschbecken erhitzte. Claire wachte auf und gesellte sich zu mir. Wir aßen im Stehen und tranken Eiswasser gegen den Durst. Ich sprang in meine Jeans und mein Hemd und ging in die warme Nacht hinaus. Der Manager verkaufte mir zwei Flaschen Budweiser. Wir tranken das Bier und hörten zu, wie die Lastwagen vorbeifuhren. Claire fing an, eine alte Melodie zu summen. Zurückblickend auf die Jahre, die wir miteinander verbracht hatten, dachte ich, hätte jemand diese Geschichte erfunden, hätte dies ihr richtiges Ende sein können. In einem Motelzimmer in der Wüste, zwei Waisenkinder auf dem Weg in ein drittes Land, nicht meines, nicht ihres. Ein drittes. Ausgedachtes.
Der nächste Morgen war der achte Tag, nachdem Randolph Durant versehentlich in mein Leben getreten war. Ich entfernte die Flugzeugservietten an meinem Oberschenkel und ersetzte sie durch das feste Toilettenpapier, das ich etwas anfeuchtete, damit es an meiner Haut haften blieb. Ich war froh zu sehen, dass mein linker Oberschenkel nicht wieder zu bluten begonnen hatte. Claire betrat das Badezimmer und entfernte das Toilettenpapier wieder. Sie benetzte die Ecke eines Handtuchs. Ruhig säuberte sie die Ränder der Wunde, vorsichtig, um das verletzte Fleisch nicht zu berühren. Jetzt war ich wieder ein Junge, und plötzlich wusste ich, dass dieser Junge ein tief liegender Teil von mir war, unter all den Schichten des Erwachsenseins.
Etwas später saßen Claire und ich in einem großen Pfannkuchenrestaurant auf dem Highway 603, der genau nach Nogales an der mexikanischen Grenze führt. Claire schüttete ihren Kaffee von einem Becher in den anderen, um die Flüssigkeit abzukühlen, und sie tat es wieder und wieder, mit großer Konzentration. Einen Moment lang dachte ich, sie wartete auf etwas. Aber sie versuchte nur, den Moment festzuhalten, vielleicht hoffte sie auf ein perfektes Stillstehen der Zeit. Nach ein paar Minuten nahm sie einen letzten Schluck und stellte den Becher mit den Rückständen ihres roten Lippenstifts auf den Rand des Tisches. Wir standen auf und gingen zurück zum Auto. Ich verspürte einen kurzen Augenblick lang den Impuls, die Richtung zu ändern, nach Norden zu fahren, aber dann gab ich Gas, lenkte den zweitürigen Catalina mit dem Optimismus eines Verdammten nach Süden, und wir erreichten die Grenze der Vereinigten Staaten weniger als eine Stunde später, ungefähr um 11:30 Uhr, beide auf ein Wunder hoffend.
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S ofort nach meiner Verhaftung wurden Claire und ich voneinander getrennt. Schmerzvolle Klammern, die von einem örtlichen Arzt am Flughafen aus einer stählernen Pistole in meinen Oberschenkel geschossen wurden, gingen meiner sofortigen Auslieferung nach New York in Begleitung eines US- Hilfs-Marshals voraus, der auf unserem Rückflug weniger als zehn Worte mit mir austauschte. Wieder in New York wurde ich umgehend in die »Gruft« gebracht, ein Gebäude, das mit einer Pokerfassade nahe der Brooklyn Bridge in die Höhe steigt. Ich wurde dort von den anderen Untersuchungshäftlingen getrennt und verbrachte meine erste Zeit selbst zu den Mahlzeiten allein in meiner Zelle.
Noch bevor ich mit einem Anwalt sprach, bat ich Claire in einem hastig verfassten Brief, mich nicht zu besuchen. Es verschaffte mir Erleichterung, sie von dem Pech zu befreien, das ich meiner Überzeugung nach über sie gebracht hatte.
Mehrmals setzte ich den erlaubten Holzkohlestift an und pausierte. Dann verlor ich mich kurz in Gedanken. Doch ich war fest entschlossen, den Verlust von Claire nicht zu bejammern, und ich zwang mich zum Weiterschreiben, obwohl ich aus Traurigkeit schier verging. Ich
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