Der Schatten von nebenan - Roman
Geschichte sauber und perfekt und scharf wie ein Messer zu halten. Die Anklage behauptete, dass Claire meine Flucht unterstützt hätte, genauso wie auch sie vor ihrer eigenen Verantwortung fliehen wollte. Sie war in den Augen der Staatsanwaltschaft eine Flüchtige und Komplizin und hatte den Unfall mit der Metallplatte vorgetäuscht, um die Stadt zu verklagen und um so ihr neues Leben mit hohen Schadensersatzzahlungen zu beginnen, geradezu wie eine Verbrecherin, deren Taten man auf der ersten Seite der Boulevardblätter in den Supermärkten neben der Kasse lesen konnte.
Am Ende hatte Claire auf versuchten Betrug plädiert. Ihr war geraten worden, eine fünfmonatige Strafe in einem Frauengefängnis in Virginia anzunehmen. In einem wütenden Anfall warf ich die Zeitung in die Ecke meiner Zelle, öffnete meine Hände, legte sie vor mein Gesicht, und zum ersten Mal seit Jahren liefen Tränen über meine Wangen.
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A ls Richter John Lorimer III . den Gerichtssaal mit den gelblichen Wänden und dem defekten Kronleuchter betrat, erschrak ich. Er war ein großer und dünner Mann mit einem ernsten Gesicht und Lippen, die aussahen, als wollten sie einen aufsaugen. Er nahm an seinem erhöhten Tisch Platz und starrte mich an. Zwei Deckenventilatoren wirbelten Luft umher, die leicht übel roch. Die Holzbänke des Raumes sahen abgenutzt aus. Durch die schmutzigen Fenster strömte das Morgenlicht in nebeligen Strahlen.
Dann begann die Verhandlung New York gegen Shelby, angeklagt der Entführung von Greta Amos und der Entführung und des Mordes an Priscilla Glassman. Die Staatsanwaltschaft präsentierte eine Zusammenfassung ihres Falles als Litanei aus soliden Beweisen. Über den Anklagepunkten schwebte auch mein Fluchtversuch. Die Frage meiner Schuld am Autounfall, der zwei Polizisten das Leben gekostet und Detective Palmer schwer verletzt hatte, wurde immer noch von dem Kings-County-Ankläger geprüft, informierte die Anklage das Gericht. Mein Anwalt hatte buchstäblich nichts, was er zu meiner Verteidigung dagegenhalten konnte, außer dass er auf nicht schuldig plädierte. Die Geschworenen, sieben Frauen und fünf Männer, kritzelten Notizen auf Schreibblocks und setzten dabei ernste Gesichter auf. Gleich nach den Eröffnungsstatements äußerte der Richter die Befürchtung, dass der Fall aufgrund von David Amos’ Status als Schriftsteller in den Medien zu großes Interesse finden würde. Er ermahnte die Geschworenen, Fernsehnachrichten zu meiden und Zeitungsberichte zu ignorieren, bis der Prozess beendet war. Die Geschworenen waren für die Dauer der Verhandlung gemeinsam in einem Hotel in Chinatown untergebracht.
Priscillas Eltern saßen in der ersten Reihe der Zuschauer im Gerichtssaal. Priscillas Vater hatte einen vollen Schopf grauer Haare, war blass und trug einen weiten, grauen Anzug und darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Ihre Mutter hatte den leeren Blick einer Todkranken. Sie hielten sich aneinander fest wie zwei alte, ineinander verwachsene Bäume.
Staatsanwalt Alan Monty besaß den Körper eines Fasses, eine näselnde Stimme, und auf seinem Kopf saß die übrig gebliebene Krone seines graubraunen Haares, das in Locken seinen Hals herabhing. Wenn er sprach, spuckte er kleine Tropfen Speichel gegen das Licht. Am zweiten Tag rief Monty seine erste Zeugin auf. Die Doppeltür des Gerichtssaals öffnete sich, und Greta kam herein. Ihre dunkle Leinenjacke war so steif, dass sie bei jeder Bewegung wie ein Segel im Wind rauschte. Sie trug nicht ihre üblichen Turnschuhe sondern elegante schwarze Lederschuhe mit hohen Absätzen. Als sie sich in den Zeugenstand setzte, beugte sie ihren Oberkörper etwas nach vorn. Ihr glänzendes Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden.
»Können Sie den Angeklagten, Galvin Shelby, in diesem Gerichtssaal identifizieren? Und wenn ja, würden Sie bitte auf ihn zeigen?«, fragte Monty.
Während Gretas Zeigefinger auf gleicher Höhe mit mir war, hielt sie Augenkontakt mit dem Staatsanwalt, der seinen Kopf zwischen die Schultern genommen hatte und wie ein Kampfhund aussah, der sich jeden Augenblick auf das Schoßhündchen stürzt. Jeder andere in dem Gerichtssaal folgte der Richtung von Gretas Finger und sah auf mich.
»Als Sie Nachbarn waren – Ihre Familie und der Angeklagte – haben Sie den Angeklagten oft bemerkt?«, fuhr der Staatsanwalt fort.
»Am Anfang, als er einzog, nicht. Mit der Zeit bemerkte ich ihn häufiger. Am Ende sah ich ihn oft«, sagte Greta mit
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