Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
kämpfte der Hierarch mit seinen Fesseln, obwohl er sich tatsächlich dabei fragte, warum. Zu kämpfen war schlecht – das sollte er inzwischen gelernt haben. Jedes Mal wenn er versucht hatte, gegen sein Schicksal anzugehen, hatte sich alles verschlimmert. Warum sich also mit Widerstand abmühen!, dachte er. Das hat keinen Sinn. Wahrhaftig, Myrial hat mich verflucht. Ich bin am Ende. Morgen Abend ist alles vorbei – und das ist wahrscheinlich gut so. Wie könnte ich mit diesem Dämon in mir weiterleben?
Ihn schauderte. In seiner Eigenschaft als Hohepriester hatte er die Existenz von Dämonen immer abgeleugnet und ins Reich der Fabel und des Aberglaubens verwiesen. Wieder hatte er sich geirrt. Wie schon so oft. Wieder hatte die Flut der Ereignisse seinen felsenfesten Glauben ein Stück unterspült. So viele seiner Überzeugungen waren bereits abgetragen, zerfallen, untergegangen.
Das Schlimmste war, dass er nur sich selbst die Schuld geben konnte. Er hatte sich einem unbekannten Wesen genähert und dabei nicht mehr Vorsicht walten lassen, als ein dreijähriger Knabe, der dem Hund der Familie entgegen läuft. Wie hatte er nur so dumm sein können? Hatte er über den Schwierigkeiten der vergangenen Tage jeglichen Sinn für Selbsterhaltung verloren? Er war der Hierarch; er durfte sein Leben nicht gegen das Unbekannte riskieren. Warum sonst hatte er Blank und seine bewaffneten Rohlinge mitgenommen? Aber nein – er hatte die vermaledeite Kreatur unbedingt untersuchen wollen, und sie hatte so leblos ausgesehen, dass alle Vorsicht ihn verlassen hatte. Er war blind gewesen vor Bestürzung. Denn er hatte so sehr darauf gezählt, dass sie noch am Leben wäre. Sein eigenes Leben hing schließlich davon ab. Außerdem hatte die Neugier ihn gelockt – sogar schlammverkrustet und tot bot der Drache noch einen faszinierenden, ehrfurchtgebietenden Anblick.
Als er sich ganz nah befunden hatte, war irgendetwas auf ihn übergesprungen. Die Welt verschwand für einen Augenblick, und ein fremdes, feindliches Wesen brach in seinen Geist ein. Mit sich brachte es rasende Kopfschmerzen. Das Eindringen glich einem körperlichen Aufprall und war von solcher Heftigkeit, dass Zavahl in die Knie brach.
Woher soll ich die Kraft nehmen, um das auszuhalten? Verkrüppelt in diesem Kerker bis ans Ende seiner Tage …
Zavahl erstarrte. Was war das? Die Angst schnitt ihm die Luft ab. Das war nicht mein Gedanke! Oh, Myrial, was geschieht mit mir? Der Dämon übernimmt mein Denken!
Ich wäre besser tot!
Das war mein Gedanke. Oder kam er von dem Eindringling? Dann sagte sich Zavahl, dass es doch gleichgültig sei. Wem immer der Satz gegolten hatte, er traf auf ihn zu. Plötzlich kam ihm zu Bewusstsein, wie rasch Blank gehandelt hatte, um einen Vorteil aus seiner Notlage zu ziehen. Es war geradezu, als ob er nur auf eine Gelegenheit gewartet hätte. Und er selbst war in diesem Augenblick zu sehr in Grauen versunken gewesen, als dass er auf die Worte des heimtückischen Hauptmanns hätte achten können. Nun aber fielen sie ihm wieder ein: »Die Belastungen der vergangenen Monate haben dem Hierarchen zu viel abverlangt … seine Hoffnungen waren unbegründet … das Tier verendete in dem Augenblick, als der Hierarch seine Hand darauf legte … Myrial wendet sich gegen den Hierarchen … Zavahl wird das Große Opfer werden.«
Die Erkenntnis war bitter. Blank! Dieses gerissene, hinterhältige Schwein! Die ganze Zeit schon betreibt er meinen Tod – und wenn diese furchtbare Sache nicht passiert wäre, hätte er einen anderen Weg gefunden, um mich auf den Scheiterhaufen zu bringen. Ganz gleich wie sehr ich versuchte, dieses Schicksal zu vermeiden, mein Tod scheint beschlossene Sache zu sein.
Nun denn, so sei es. Mit einem Gefühl, das der Erleichterung recht nahe kam, akzeptierte Zavahl am Ende das Unvermeidliche. Sein Untergang würde auch das Ende des Ungeheuers bedeuten, das in ihm lauerte. Wenn Myrial und seine Untertanen forderten, dass Zavahl sein Leben beschließen solle, dann würde er dies ohne Klagen oder Ausflüchte und ohne Bedauern tun. Bis auf eins: Er wünschte – oh, wie sehr er sich das wünschte –, dass er Blank mit in den Tod reißen könnte.
Menschliche Augen sehen anders. Was sie schauen, ist oberflächlich und eingeschränkt. Der Mensch ist eine belanglose, zerbrechliche, unausgeglichene Missgestalt, sein Organismus schwächlich und kaum belastbar. Und sein Verstand! Verwirrt, unentwickelt und schlecht genutzt – ein
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