Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
sich vor ihm auf.
Doch etwas unternehmen musste er nun. Diese menschliche Hülle zeigte bereits Anzeichen wachsenden körperlichen Elends, da sein Eigentümer sich immer heftiger erregte und ängstigte und seine Gegenwehr wuchs. Aus Angst, dieses zerbrechliche Gefäß zu beschädigen, traf Aethon eine rasche Entscheidung. Er zwang sich, zu entspannen und still zu bleiben; mit aller Kraft unterdrückte er seinen Drang, die Herrschaft über den Körper an sich zu reißen. Diese Zurückhaltung erschien ihm am vernünftigsten. Schließlich konnte der Mensch nicht im mindesten ahnen, was ihm widerfahren war. Hoffentlich würde dessen Verhalten ihr gemeinsames Überleben sichern. O großes Licht, meine Hilflosigkeit trifft mich wirklich hart!
Er hatte sich richtig entschieden. Als der Mensch seinen Körper umgedreht hatte, sah Aethon in Bodenhöhe haarfeine Lichtstreifen, die eine Tür anzeigten. Obwohl nicht genug Licht einfiel, dass er Einzelheiten seiner Umgebung erkennen konnte, empfand er schon das bloße Sehenkönnen als einen großen Trost, der ihm ein wenig von dem Gefühl des Ausgeliefertseins nahm. Er heftete den Blick auf den tröstlichen Lichtschein und konzentrierte sich auf die übrigen Wahrnehmungen. Doch es brachte nichts ein, sich mit der muffigen Luft, mit dem kratzenden Durstgefühl, dem brennenden Hunger, den Kopfschmerzen oder den verkrampften Muskeln zu beschäftigen. Er hörte Stimmen in der Nähe, doch wie angestrengt er auch horchte, es war nicht zu verstehen, was sie sprachen. Die menschlichen Sinne waren ein Fluch!
Plötzlich leuchtete eine Erinnerung auf wie ein Blitz am Nachthimmel. Der Berghang. Der schreckliche Moment, als er zum ersten Mal aus menschlichen Augen geblickt hatte. Eine Gruppe Bewaffneter umringte ihn wie eine Mauer, während er sich kreischend niederkauerte. Der Ring Soldaten tat sich auf, und ein Mann betrat die Szene. Wenn auch alle anderen respektvoll zurücktraten, so hätte es dieses Beweises seiner Autorität nicht bedurft. Der Mann besaß eine Aura der Macht und Stärke, der Gewalt, Gewichtigkeit und vollkommener Selbstsicherheit, die jeden in seiner Nähe zu einem Schatten werden ließ.
Auf einmal fühlte sich der Seher in eine Flut des Hasses getaucht, in Zorn und nackte Angst. Dies waren nicht seine eigenen Empfindungen, sondern die Gefühle seines Wirts gegen diesen Mann. Aethon war nicht überrascht. Aber es regte sich etwas in seiner Erinnerung, tauchte aus der Tiefe langsam ans Licht des Bewusstseins. Zunächst, nach einem Moment des Erschreckens, wollte er glauben, dass eine fremde Erinnerung in seine eigene eindrang, denn schließlich kannte er niemanden in diesem schroffen, feindseligen Land.
Doch aus der Ahnung wurde Überzeugung.
In der Rückschau sah er den Mann vortreten, und er ragte drohend über ihm auf wie der finstere, unheilbrütende Gebirgskamm. Er hob die Hand zum Schlag – und in diesem letzten Moment, bevor Aethon das Bewusstsein verlor, erkannte der Drache ihn: Amaurn! Du!
In der Dunkelheit hallten die Schreie von Mensch und Drache wieder.
Nun, da Elion und sein Gefährte es sich für die Nacht bequem gemacht hatten, sah Thirishri keinen Grund, noch weiter um die Schutzhütte herumzustreifen. Die beiden hatten eine schmale Ration vom Proviant gegessen und schliefen. Windgeister indes brauchten keinen Schlaf. Sie sagte sich, dass sie etwas Nützliches unternehmen sollte, etwas, mit dem sie Tormon half. Thirishri hatte zugehört, als der Händler Elion berichtete, was ihm geschehen war, und war wie schon so oft entsetzt über die Bereitwilligkeit, mit der Menschen zu Verrat und Gewalt griffen. Sie beschloss, sich nach Tiarond zu begeben und etwas über das Schicksal seiner Familie in Erfahrung zu bringen. Es sollte nicht weiter schlimm sein, wenn ich mich für eine oder zwei Stunden entferne, dachte sie. Viel kann hier oben in der Zeit nicht passieren.
*Elion?* Sie gab dem Wissenshüter einen festen mentalen Stoß, bevor sie tiefer in diese unheimliche, teilnahmslose Vergessenheit eindrang, welche die Menschen so sehr zu brauchen schienen – obwohl sie nicht einzusehen vermochte, worin der Nutzen dieser Zeitverschwendung bestehen sollte.
»Was ist?« Elion erwachte nur mühsam. »Ist etwas passiert?«
*Nein – nichts, wovon ich wüsste. Und da wir schon lange nichts von Veldan oder Kazairl gehört haben, nehme ich an, dass es ihnen gut geht. Sie dürften wahrscheinlich längst schlafen, und ich will sie nicht wecken.*
»Nein,
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