Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
noch einen anderen Grund«, fügte Kaita stirnrunzelnd hinzu. »Agella, ich weiß natürlich, dass du für deine Familie sorgen möchtest, aber niemand darf herausfinden, dass im Heiligen Bezirk die Lebensmittel gehortet werden. Wenn das in der Unterstadt die Runde macht, haben wir das aufgewiegelte Volk vor dem Tor, noch ehe wir es recht begriffen haben.«
Die Frauen sahen einander an, dann wandten sie den Blick ab. Spontan und unverblümt hatte Kaita einen Sachverhalt angesprochen, der ihnen allen unangenehm war. Evelinden brach als Erste das verlegene Schweigen. »Nun gut, niemand schätzt den Gedanken daran, dass andere hungern, während er selbst isst, und gerade als Ärztin sollte ich mich vermutlich schämen -«
»Also, ich nicht«, warf Kaita dazwischen. »Ich habe mir meine Stellung im Haus der Heilung redlich verdient. Wir werden hier alle ausgebildet, aber du weißt so gut wie ich, dass man nur die allerbesten hier behält. Und darum habe ich mir in einem Kaff an der Südküste die Finger wundgearbeitet. Ich lernte, schwitzte und arbeitete wie ein Sklave für diese Leute. Ich saß bald jede Nacht bei Alten und Kindern, bis ich fast selbst umfiel. Ich habe das Essen von meinem Teller weggegeben und die Kleider von meinem Leib. Ich habe keineswegs ein Leben in Wohlstand und mit Vorrechten gehabt, wie der Hierarch. Ich weigere mich, mir wegen einer kleinen Extraration ein schlechtes Gewissen zu machen. Selbst wenn wir alles an das hungernde Volk von Tiarond verschenken würden, mal abgesehen von den übrigen Menschen in Callisiora, es würde sie nicht einen Tag lang ernähren -«
»Ich weiß, Liebes, ich weiß«, sagte Evelinden begütigend. »Der Hierarch legt die Regeln fest, nicht wir. Und wir alle haben den Eid des Stillschweigens geleistet. Es würde niemandem etwas nützen, wenn wir unser Essen verweigerten.«
»Du kannst sicher sein, dass die Unterstadtbewohner es nicht so sehen würden«, stellte Agella grimmig heraus. »Und wer will es ihnen verdenken! Du hast Recht, Kaita: Meine Familie darf nichts davon erfahren. Und unglücklicherweise beginnt Viora sich schon zu wundern.«
»Dann gibt es nur eines zu tun«, sagte Evelinden lebhaft und bestimmt, »wir müssen sie so schnell wie möglich wieder auf die Beine bringen und eine Bleibe in der Stadt für sie finden. Vorzugsweise morgen. Komm, Agella. Ich werde dich jetzt begleiten.«
Als Agella mit der Heilerin in ihrem Haus ankam, fiel die wütende Viora über sie her. »Was hast du dich so lange aufgehalten?«, zischte sie leise, während Evelinden noch ihren weißen Mantel aufhängte. Doch die Ärztin hatte ein gutes Gehör. Sie drehte sich behände zu ihr um und sagte: »Ich habe sie so lange aufgehalten, gute Frau. Ich hatte mit Meisterin Agella einiges zu besprechen.«
Viora starrte sie an, wagte es aber nicht, die Ärztin zu beleidigen. Agella unterdrückte ein Lächeln, als sie ihre Schwester so wirkungsvoll – für eine Weile wenigstens – zum Schweigen gebracht sah. Aber sie hatte so eine Ahnung, dass sie später dafür zu zahlen hätte.
Evelinden bestand darauf, Felyss allein zu behandeln. Sie schob Viora aus dem Zimmer, die sehr verärgert darauf reagierte, aber sie blieb hart. »Deine Tochter muss sich darüber aussprechen, was heute geschehen ist. Anderenfalls wird sie nie mit dieser Sache ins Reine kommen, und der Heilungsprozess kann nicht einmal beginnen. Als Fremde bin ich genau die Richtige, um ihr zuzuhören. Sie kann frei heraus sprechen, in dem Bewusstsein, dass ihre Offenheit keine Folgen für sie haben wird. Ich werde ein- oder zweimal zu ihr kommen, dann werde ich aus ihrem Leben verschwunden sein. Sie wird mir nicht täglich mit dem Wissen begegnen müssen, dass ich die Schrecken kenne, derer sie sich zu entledigen hatte.«
Für einen Augenblick war Vioras Angriffslust verschwunden. »Und das wird ihr helfen?«, fragte sie zaghaft. Plötzlich begriff Agella, wie sehr das zänkische Verhalten ihrer Schwester der Sorge über die Tochter entsprang, und fühlte sich beschämt, dass sie sich zum Zorn hatte hinreißen lassen.
Die Heilerin klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Es wird helfen. Und hinterher gebe ich ihr einen guten Schluck, der sie bis morgen Mittag schlafen lässt. Einen langen, tiefen Schlaf braucht sie jetzt – genau wie du. Am besten legst du dich auch sofort hin.«
Die niedrige Dachstube mochte einmal ein gemütlicher Raum gewesen sein, doch war sie über Jahre
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