Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Aveoles graues, krank aussehendes Gesicht und ihr rabenschwarzes Haar stand ihm klar vor Augen. Ihr schlanker Körper war erbarmungswürdig in sich zusammengesunken, doch in ihren grauen Augen funkelte die Aufsässigkeit, und niemand der ihr zugesellten Wissenshüter – nicht einmal Cergorn persönlich – hatte diese Aufsässigkeit auslöschen können.
Man hatte den Prozess auf einer Lichtung am Ufer des düsteren oberen Sees abgehalten. Das Wasser dort war eisig und so grau wie die Wolken, die immerwährend über dem Bergsee hingen, der den Eindruck unendlicher Tiefe erweckte. Die Landschaft mit den dunklen Tannen passte ganz und gar zu dem Anlass. Doch davon abgesehen musste diese bedeutsame Versammlung, die sich mit einer Angelegenheit befasste, welche den Schattenbund selbst betraf, im Freien stattfinden, da die Mehrheit der Wissenshüter in keine menschliche Behausung passte oder einfach ihr angestammtes Element nicht verlassen konnte.
Viele Augen waren auf ihn gerichtet gewesen, auf der Lichtung, vom Wasser aus, von den Bäumen herab und aus der nebligen Luft. Der Afanc schwamm in Ufernähe und hob den Kopf weit aus dem Wasser, seine schwarzgrüne Mähne floss an seinem biegsamen, glänzenden Hals hinunter. Er machte ein ernstes und zugleich kummervolles Gesicht. Selke und Delfini wagten sich nicht so weit flussaufwärts, doch einige Dobarchu schwammen im seichten Wasser. Ihren runden haarigen Gesichtern und den glänzenden dunklen Augen fehlte die übliche Fröhlichkeit und der Schalk.
Im tieferen Wasser war eine Nereide aufgetaucht und hielt stolzen Abstand vom Ufer. Sie war die einzige ihrer Art, der Cergorn zu kommen erlaubt hatte, denn der Archimandrit, und mit ihm die meisten Landbewohner, fürchteten und verachteten diese Wesen. Doch selbst ihr blasses, spitzes Gesicht drückte Kälte und Missbilligung aus. Ihr Sirenengesang war verstummt, dieses eine Mal stand ihr nicht der Sinn danach, Landbewohner ins Wasser und in den Tod zu locken, um ihr erbarmungsloses Verlangen nach Lust zu befriedigen.
Auf der Lichtung standen die Zentauren: Cergorn, seine Lebensgefährtin und seine Kinder. Sie alle starrten Amaurn hasserfüllt an, was er ihnen kaum verdenken konnte. Zum Glück änderten die befremdlichen Chitingesichter der Gaeorn und Alvai nie ihren Ausdruck, wenn auch freilich der rote Schimmer in den Augen der einen und die sprungbereite Haltung der anderen Feindseligkeit ausdrückten.
Auch einige Luftbewohner waren gekommen. Amaurn sah die Luftgeister immer wieder aus dem Augenwinkel; sie zeigten sich als fließender Schimmer. Am Himmel bewegten sich lustlos mehrere Engel einmal hierhin, einmal dorthin. Ihre Flügel erstreckten sich über die Länge von zwei ausgewachsenen Männern, und ihre schmalen Körper waren nicht geeignet, um sich lange am selben Platz aufzuhalten. Mit ihren langen Schwänzen beschrieben sie elegante Figuren wie ein Kinderdrachen, und insgesamt glichen sie sehr den Rochen.
Da sie von starker Sonnenstrahlung abhängig waren, verließen die Drachen äußerst selten die Wüsten ihrer Heimat. Doch in Amaurns Fall hatten sie eine Ausnahme gemacht. Zwei ihrer Repräsentanten waren gekommen. Sie ruhten eindrucksvoll unter den Versammelten und leuchteten golden, als hätten sie den Schein der Wüstensonne an diesen bedrückenden Ort gebracht. Wahrhaftig eine besondere Ehre, dachte Amaurn säuerlich, denn er hatte Chahala erkannt, die Seherin. Sie war schon sehr betagt, und die Farbe ihres steifen alten Körpers changierte bereits von golden nach silbern. Die lange Reise musste für sie sehr beschwerlich gewesen sein, und Amaurn wunderte sich, warum sie gekommen war. Sie wird bald sterben, dachte er und fühlte einen Stich des Bedauerns. Dann wird sie die immense Ansammlung an Erinnerungen und Wissen an einen jüngeren weitergeben, der wie sie die Gabe – oder den Fluch – des Sehers besitzt. Als ihre Blicke sich trafen, glaubte Amaurn einen Anflug von Wohlwollen in ihren Augen zu erkennen – oder bildete er sich das nur ein?
Die Mitglieder des Schattenbundes, für die es unmöglich war zu kommen – zum Beispiel die gewaltigen Leviathane der Meere und die feurigen, gestaltwandelnden Salamandri aus den Vulkanen –, verfolgten den Prozess mit Hilfe von Späherkugeln. Diese Kugeln aus Kristall, von der Größe etwa eines Menschenkopfes, waren ein Überbleibsel der Technik – oder der Magie – der Alten, und niemand verstand, wie sie funktionierten. Bilder und Töne wurden auf
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