Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
wartete, angespannt und sehnsüchtig – doch als sie schließlich kam, war sie im Raum, ohne dass er das leiseste Anzeichen ihres Kommens bemerkt hatte.
Als Hüterin des Wissens war sie dazu ausgebildet, völlig unbemerkt vorgehen zu können. Wie aus dem Nichts kam das sachte Klicken des Riegels, und es war, als ob der schwere grüne Vorhang sich nur durch einen Luftzug bewegt hätte. Dann glitt Aveole geschmeidig und lautlos wie eine Katze hinter dem Vorhang hervor. Amaurn blickte von den Resten seines Mahls auf. Sie war da. Bleich und stumm wie ein Gespenst erschien sie ihm. Einen zeitlosen Augenblick lang schauten sie sich an, dann sprang er auf, und sie hielten sich in den Armen, ehe sie sich einer Bewegung bewusst geworden waren.
So standen sie, ohne etwas zu sagen, und pressten sich aneinander, als wollten sie zu einer Person verschmelzen. Doch ihren Geist schirmten sie gegeneinander ab. Wie ähnlich wir uns doch sind, dachte Amaurn. Keiner will seinen Schmerz dem anderen aufbürden. Still genoss er, wie die sehnigen starken Arme ihn festhielten, genoss den Wohlgeruch ihrer Haare, die Berührung ihrer seidigen Haut, auf der ein paar raue Narben zu spüren waren.
Eine Zeit lang saugten sie einander auf, schwelgten in Erinnerungen, dann, wie auf ein Zeichen, traten sie auseinander. Aveole drehte sich hastig von ihm fort, und Amaurn glaubte ein Glitzern auf ihren Wangen zu bemerken. Sie ging ans Fenster und schaute auf das dunkler werdende Tal hinaus. Ein einzelner Gedanke verließ ihren Schutzschild. Das ist meine Zukunft, nichts als Dunkelheit.
Amaurn betrachtete mit wachsendem Stolz, wie sie sich beherrschte, gerade als er selbst seine Gefühle bezwang, die ihn zu überwältigen drohten. Einen Augenblick später hob sie den Kopf und straffte die Schultern. Als sie sich zu ihm umdrehte, waren ihre Augen trocken. »Sie lassen mich nicht allzu lange bleiben«, sagte sie leise. »Zuerst habe ich geglaubt, sie würden mir überhaupt nicht gestatten, dich noch einmal zu sehen.«
Amaurn gelang ein Lächeln. »Wenn es auf einen Willenskampf ankommt, würde ich jederzeit alles auf dich setzen.«
»Davon bist du überzeugt? Warum konnte ich dann den wichtigsten aller Kämpfe nicht gewinnen und sie dazu bringen, dein Leben zu verschonen?« Aveole ballte verstohlen die Fäuste. Sie begann zu zittern. »Wenn diese Nacht vorbei ist, werde ich dich nie mehr wiedersehen.«
Sie war kaum kleiner als er und wirkte doch zierlich und verletzlich, wie sie so vor ihm stand. Man hatte ihr die Lederkluft der Wissenshüter genommen und sie in ein formloses, weißes Hemd aus einem dünnen Stoff gesteckt, das in dieser feuchtkalten Herbstnacht keinesfalls wärmte. An den Füßen trug sie nur leichte Pantoffeln, die auf nassem, steinigem Boden im Nu zerschlissen wären. Vermutlich sollte diese Bekleidung sie an der Flucht hindern. Das harte Weiß nahm ihrem Gesicht das letzte bisschen Farbe und ließ es hager erscheinen. Sie wirkte verhärmt, und das lose Gewand gab ihr das Aussehen eines zur Opferung hergerichteten Menschen. Amaurn liebte sie, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Aber ihm war niemals bewusst gewesen, wie stark seine Liebe war – bis jetzt, wo sein Tod bevorstand. Er fühlte sich wie mit einem warmen, klaren Licht erfüllt, das seinen Segen über alle seine Taten ausgoss. Nun, da es zu spät war, bedauerte er die Konfrontation mit dem Archimandriten. Wären nicht sein Stolz und seine Torheit gewesen, er und Aveole hätten eine Zukunft miteinander haben können! Er wünschte sich sehnlich, mit ihr fliehen zu können, irgendwohin, wo sie zusammen sein und in Sicherheit leben könnten.
Sie musste ihm seine Gefühle angesehen haben, denn gerade, als er einen Schritt auf sie zu machte, eilte Aveole ihm quer durch den Raum entgegen, mit der Behändigkeit und Anmut der geborenen Schwertfechterin. Sie umarmten und küssten sich mit atemloser Leidenschaft, die sie taumelig machte. Dann zerrten sie sich die Kleider vom Leib und paarten sich wie zwei Rasende, verzweifelt und traurig, voller Lust und Zorn.
Als sie schließlich die Ruhe der Erfüllung gefunden hatten, schmiegten sie sich auf dem Sofa aneinander, besänftigt, satt und schläfrig. Aveole nahm sein Gesicht in ihre schwieligen Hände und zeichnete seine Linien nach, prägte sie sich ins Gedächtnis.
»In meinem Herzen«, flüsterte sie, »werden wir immer so wie jetzt zusammen sein.« So lagen sie und genossen jeden kostbaren Moment, bis die Wachen Aveole
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