Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
ist.«
»Myrial bewahre uns! Sieh dir das nur an!«, rief Kanella vom Kutschbock herunter. Ein Stück voraus führte der Pass zwischen steilen Felsen in einen schmalen Hohlweg, und die monatelangen Regenfälle hatten ein Stück des steinigen Pfades in einen reißenden Gebirgsbach verwandelt.
Tormon betrachtete den wolkenverhangenen Felsenkamm und die Kiefern, die hoch über ihm an der Felskante des Steilhangs wurzelten. »Das riecht förmlich nach einem Erdrutsch. Wenn der Pass weiter unten noch nicht verschüttet ist, dann fresse ich einen Besen.«
Unwillkürlich tätschelte der Händler den Hals seines Rappen, während er die Lage überdachte. Stundenlang waren sie die Serpentinen an der südöstlichen Bergflanke zum Schlangenpass hinaufgefahren und nur quälend langsam vorangekommen. Mensch und Tier waren erschöpft. Wie immer hatten sie sich darauf gefreut, den Grat zu erreichen und eine Weile auf ebenem Grund rasten zu können, bevor sie den Abstieg zurück in die Zivilisation anträten. Aber daraus würde nun nichts werden, und auf keinen Fall kamen sie rechtzeitig nach Tiarond, bevor man dort zur Nacht die Stadttore schloss. Sollten sie umkehren und dadurch den Ertrag eines Jahres verlieren oder weiterfahren und den Wagen, die Ladung und ihr Leben aufs Spiel setzen? Wie die Dinge lagen, konnten sie von Glück sagen, wenn der Verkauf in Tiarond überhaupt einen Gewinn einbrächte. Das schlechte Wetter hatte ihre übliche Route völlig durcheinander gebracht, und sie lagen bereits einen Monat hinter dem Zeitplan.
Für fahrende Händler waren es harte Zeiten, und Tormon fragte sich, wie lange er und seine Familie dieses Leben noch führen könnten. Der bunt bemalte Wagen war zugleich ihr Zuhause und ihr Brotverdienst. In glücklicheren Zeiten fuhren sie damit eine jährliche Runde durch die Regionen des Landes und verbrachten nur den kältesten Teil des Winters in Tiarond, das in den Bergen des Nordens lag.
Der Winter setzte dem Handelsjahr ein Ende, und der Frühling bedeutete einen neuen Anfang. Für gewöhnlich verließen sie Tiarond mit dem ersten Tauwetter und wanderten nach Südwesten in die fruchtbaren Ebenen. Dorthin brachten sie die Luxusgüter der Stadt, aber auch Werkzeuge, Waffen und Gerätschaften aus den Metallen, die im Nordgebirge geschürft und in Tiarond verarbeitet wurden. Zwei oder drei Monate verbrachten sie bei den reichen Farmern und verdienten sich ein paar Kupfermünzen und Handelsware dazu, indem sie bei der Aussaat halfen und später bei der ersten Heuernte. Dann zogen sie nach Süden weiter und verbrachten einen geruhsamen Sommer an der warmen hügeligen Küste des Ozeans. Dort verkauften sie den Flachs, das Getreide, Gemüse und Leder und füllten ihren Wagen wieder auf mit den Gütern der Küstenregion: Baumwollstoffen, Töpferwaren, Räucherfisch, Oliven, Trauben und Feigen, Kräutern und Knoblauch sowie mit Schafs- und Ziegenkäse.
Wenn das Jahr sich dem Herbst zuneigte, reisten sie auf östlicher Route in Richtung Tiarond, verdingten sich unterwegs bei der Apfelernte und kehrten schließlich nach Norden zurück mit einer Ladung Öl, Wein, Gewürzen, Perlen und anderen teuren, aber leichten Waren, sowie mit ein paar Früchten, saurem Apfelwein und Schaffellen aus dem kargen Moorland, das im Nordosten an das Gebirge grenzte.
Meistens führten sie ein angenehmes Leben: zufrieden, satt und abwechslungsreich. Bei jedem Halt auf ihrer Strecke trafen sie alte und neue Freunde. Natürlich kannten sie auch Notzeiten, und in abgelegenen Gegenden stießen sie gelegentlich auf Banditen. Mitunter konnte das Wetter ihr Leben rau und unfreundlich, ja sogar riskant gestalten – wie nun schon seit Monaten; schlechteres Wetter hatten sie noch nie erlebt.
»Hier, Liebling, halte das für mich«, sagte Kanella und gab ihrer Tochter die Zügel in die Hand. Annas setzte sich auf dem Kutschbock zurecht und hielt die Lederschnüre mit festem Griff. Ihre dunklen Augen leuchteten vor Stolz, und ihr Gesichtchen unter dem dunklen glatten Pony war ganz ernst.
Kanella unterdrückte ein Lächeln. Die beiden großen Pferde, die Annas mit einem Schnauben hätten hinwegfegen können, brauchten niemanden, der ihre Zügel hielt. Auf ein Wort blieben sie stehen. Aber Verantwortung war wichtig für das kleine Mädchen, und dass die Mutter sie mit den kostbaren Pferden betraute, bedeutete ihr sehr viel. Obwohl Annas erst fünf Jahre alt war, nahm sie es sehr genau mit ihren Pflichten.
Kanella dankte
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