Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
anzusehen waren, und die ihn mit jenem schiefen Seitenblick bedachte, mit dem sie seine hilflose Leidenschaft zur Kenntnis nahm und zugleich zum Ausdruck brachte, dass sie seine Liebe nicht erwidern konnte.
Und schließlich sah er Melnyth wieder um ihr Leben kämpfen, in dem finsteren Labyrinth, das die Festung der Ak’Zahar war. Melnyth mit dem Rücken zur Wand und aus einem Dutzend Wunden blutend, von dunklen Flügelgestalten umringt, die nach ihr griffen, nach ihrem Blut lechzten und den tödlichen Kreis, den ihre Klinge zog, immer wieder zu durchbrechen versuchten, bis ihre Hand müde geworden war. Dann war sie besiegt und wurde von Klauen und Fängen in Stücke gerissen. Mit den letzten Atemzügen hatte sie ihm zugerufen zu fliehen, sich zu retten und die wichtige Information nach Hause zu bringen, wegen der sie dorthin gekommen waren.
Melnyth war tot, und Elion lebte, um sie zu betrauern. Vor vier Monaten war sie noch am Leben gewesen. Seitdem lebte er in nicht enden wollendem, abgrundtiefem Schmerz.
Elion verbarg das Gesicht in den Händen. Es hatte keinen Sinn. Der Kummer war unerträglich, und an diesem Ort zu bleiben, der so voller Erinnerungen steckte, erschien ihm zu hart. Sein Leid brachte ihn an den Punkt, an dem es nur zwei Möglichkeiten zu geben schien. Er brauchte sich nur entscheiden. Er könnte Gendival und den Schattenbund verlassen und einen der telepathischen Heiler bitten, die Erinnerung an seine Jahre als Wissenshüter auszulöschen und durch eine erfundene, aber glückliche Vergangenheit zu ersetzen. Bis zu Melnyths Tod hatte er im Schattenbund eine glückliche Zeit verlebt. Nun hatte er Melnyth verloren – wollte er denn auch noch die Erinnerung an sie verlieren? Wie sehr sie ihn auch schmerzte, die Erinnerung war alles, was ihm von ihr blieb.
Noch ein anderes Vergessen stand ihm offen. Der See war an dieser Stelle sehr tief. Wenn er mit Stiefeln und Schwert ins Wasser ginge, mit seiner ganzen Ausrüstung, könnte er wieder mit Melnyth vereint sein. Und falls es kein Leben nach dem Tod gäbe, was er vermutete, wäre er wenigstens alle Schmerzen los …
»Elion? Elion!«
Elion erschrak heftig, als ihn jemand an der Schulter berührte. Nach der Gereiztheit seiner Stimme zu urteilen, musste Cergorn ihn schon eine Weile lang gerufen haben. Mit geröteten Wangen und schuldbewusst stand Elion auf und hoffte, dass kein Gedanke den telepathischen Schild (den jeder Telepath als erstes erlernen musste) durchdrungen hatte. »Archimandrit.« Es gab kein Entrinnen mehr – der Archimandrit hatte ihn ertappt, wie er gegen dessen ausdrücklichen Rat in der Einsamkeit Trübsal blies.
Cergorn sah auf ihn nieder und schüttelte den Kopf. »Schon wieder, Elion?«, fragte er seufzend. »Du hast mein ganzes Mitgefühl für deinen Verlust, aber du schadest dir nur, wenn du hier allein vor dich hin grübelst. Niemand erwartet von dir, dass du Melnyth vergisst – wir alle haben sie geliebt. Doch wenn du die Umstände ihres Todes nicht ruhen lässt, machst du Melnyth keine Ehre, und dir selbst schadest du damit.«
»Melnyth war meine Partnerin. Ich habe ein Recht, sie zu betrauern«, erwiderte Elion mürrisch.
»Das dir niemand abspricht. Aber du bist nicht mit ihr gestorben, Elion, so sehr du das auch wünschen magst. Du gehörst den Lebenden, nicht den Toten. Um deiner selbst willen musst du dich mit dem Verlust abfinden.« Cergorn sah seinen Untergebenen sehr eindringlich an. »Melnyth war eine Frau, die das Leben in vollen Zügen genoss. Ich glaube, sie wäre tieftraurig zu sehen, wie du ihr dein Leben ins Grab wirfst.«
Elions unerfahrenes Gemüt geriet in Wallung. »Verdammt – wie kannst du es wagen! Melnyth hat nicht einmal ein Grab! Sie endete als Aas! Als Futter für die verfluchten Ak’Zahar!«
»So? Das kommt vor.«
Elion war so entsetzt über die Brutalität der Worte, dass er die mitfühlende Miene des Archimandriten nicht wahrnahm.
»Das Leben eines Wissenshüters ist schonungslos, kurz und kaum jemals angenehm – und sein Tod meist ebenfalls. Das wusstest du sehr gut, als du freiwillig zu uns kamst. Wie viele Partner, glaubst du, habe ich schon in meinem Leben verloren? Wie viele wirst du noch verlieren, wenn du lange genug lebst? Du solltest dich besser jetzt daran gewöhnen, Junge – oder mach, dass du fortkommst und bau Kartoffeln an!«
»Vielleicht sollte ich das wirklich tun!«, fuhr Elion ihn an. »Das ist besser, als zu einem gefühllosen Ungeheuer zu werden
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