Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
ließen. Sie war gewiss zäh, doch kaum so kräftig wie ihr Lebensgefährte; in ihrem Bestreben, diesem gottverlassenen und gefährlichen Ort zu entkommen, arbeitete sie zu schnell und zu schwer und verausgabte sich rasch.
Am Ende zwang sie die Erschöpfung, aufzuhören und den schmerzenden Gliedmaßen eine Ruhepause zu gönnen. Kanella kletterte den Wagen hinauf und öffnete die niedrige Vordertür, um nach Annas zu sehen, die zu ihrem großen Verdruss im Wagen hatte bleiben müssen. Für ein Kind, so hatte man ihr gesagt, sei es viel zu gefährlich, in einem Erdrutschgebiet herumzulaufen. Die Familie geriet auf ihren Fahrten häufig in riskante Situationen, und Annas hatte schon früh den Wert des Gehorsams begriffen. Deshalb unterließ sie alle Einwände. Außerdem nahm der Regen einer Erkundung jeden Reiz.
Kanella lugte in den Wagen, und die vertraute Behaglichkeit wirkte tröstlich. Der warme schummrige Innenraum war voll gestopft mit Schachteln, Bündeln und Ballen. Der beißende Geruch der Tierfelle mischte sich mit Kräuterdüften und dem kräftigen Aroma von Knoblauch und Herbstfrüchten. Jeder Winkel war kostbar. In den Regalen zu beiden Seiten standen die rau glasierten, mit Wachs verschlossenen Tonkrüge dicht an dicht. Ein erhöhter Rand an jedem Bord verhinderte, dass sie herausfielen, wenn der Wagen schwankte. Eine Tischplatte hing an Scharnieren von der Wand und konnte ebenso wie die beiden Stühle eingeklappt werden. Die Hängematten waren zusammengerollt an dicken Haken unter der Decke angebunden, um den verbliebenen Raum der Koje im hinteren Wagenteil freizuhalten. Die meisten Waren, die sonst in diese Ecke gequetscht wurden, waren nun auf dem Eselkarren gestapelt und mit Seilen festgezurrt. Hinten in dem beengten Alkoven ruhte Annas zusammengeringelt auf einem Haufen Felle. Sie war schon halb eingeschlafen, das Bilderbuch, ein kostbarer Schatz, lag aufgeschlagen neben ihr.
Kanella wollte sie nicht wieder wecken, und schloss die Tür. Auf der windgeschützten Seite kauerte sie sich am Wagen nieder. Wie sehr sie sich nach Schlaf sehnte. Vorzugsweise an jedem anderen Ort als diesem. Tormon hatte zwar mit seinem männlichen Verstand darauf hingewiesen, dass alles lockere Erdreich bereits hinabgestürzt sei, sodass sie sich jetzt auf dem sichersten Wegstück befänden, doch ganz gleich, was er sagte – der Gedanke, dass sie hier festsaßen und der halbe Berg kurz davor stand, auf sie niederzuregnen, verursachte ihr ein Kribbeln unter der Kopfhaut. Um sich von diesen Gedanken zu lösen, und weil sie mittlerweile entsetzlich fror, stand sie auf und musterte forschend den schlammbedeckten Abhang.
»Sei vorsichtig«, rief Tormon. »Geh nicht zu nah heran. Hier oben ist es sicher genug, aber auf dem Hang dort unten sieht mir einiges doch recht locker aus.«
Kanella schmunzelte. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich so weit hinunter zu wagen; jedenfalls nicht, solange sie noch alle Sinne beisammen hatte. Im Übrigen hätte sie dazu über schlüpfrige Äste und die aufragenden Splitter geborstener Baumstämme klettern müssen. Trotzdem hätte sie Tormon gegenüber genau die gleiche Warnung ausgesprochen – ebenso unnötig und ebenso unvermeidlich.
Beim Anblick der schlimmen Verwüstung auf dem Hang verging ihr das Lächeln wieder. Ein Bild wie vom Untergang der Welt bot sich ihr: graues, diesiges Licht, Nieselregen, aufgewühlte Erde. Der einzige helle Fleck war ein blasser goldener Schimmer auf einem Schlammhügel zwischen ein paar Ästen … Kanella stutzte. Golden? Was um alles in der Welt konnte das sein? Ihre Neugier siegte über die Vernunft.
Sie näherte sich langsam und mit großer Vorsicht dem Hügel. Es war ein gefährliches Unterfangen. Bei jedem Schritt prüfte sie den Grund auf seine Festigkeit, bevor sie ihn mit ihrem Gewicht belastete. Und dennoch war jedes kleine Vorwärtskommen vom Krachen der Äste und Knirschen losen Gerölls begleitet. Sie ruderte mit den Armen, neigte sich vor und zurück und hielt sich wahllos an allem fest. Schließlich gelangte sie an die Stelle, wo das Stückchen Gold in der Dämmerung schimmerte. Sie kniete sich hin und klopfte versuchsweise mit dem Finger auf ihren Fund. Er sah aus wie ein Stück Segel von den Fischerbooten, die sie im Süden gesehen hatte, oder vielleicht auch wie ein Fledermausflügel – sofern die Bootssegel und Fledermausflügel aus einem ledrigen, gesprenkelten Goldstoff gemacht waren.
Kanella zog die Brauen zusammen und
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