Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
kniete neben dem Tier, während ihr vor Zorn und Mitleid die Tränen über das Gesicht flossen, denn sie waren zu spät gekommen und hatten den Esel nicht mehr retten können. Kurz darauf hatten sie das verängstigte Fohlen entdeckt, das sich hinter die Lasten des Muttertieres gekauert hatte.
Das mitleiderregende Geschöpf war nur Haut und Knochen gewesen, und so hatte Kanella das Fohlen an sich genommen. Sie pflegte es Tag und Nacht und weigerte sich, es aufzugeben, obgleich sein Leben an einem seidenen Faden hing. Unterdessen beobachtete Tormon diesen neu entdeckten Charakterzug seiner Frau mit Bewunderung und zunehmendem Respekt. Wenn er später diese Geschichte erzählte, so sagte er, dass Esmeralda schließlich ihre Niederlage eingestehen musste und sich zu leben entschloss; seitdem habe sie die gesamte Familie einschließlich der Pferde mit eisernem Willen regiert.
Kanella hatte inzwischen den Karren ausgespannt, dem Tier aber das Zaumzeug gelassen. Tormon holte ein Seil aus dem Wagen, band sich das eine Ende um die Hüfte und verknotete das andere Ende mit den Zügeln. Im Magen spürte er das beklemmende Gefühl, es sei vielleicht doch keine so gute Idee – aber was hätten sie anderes tun sollen?
Er bemerkte eine kleine, ängstliche Falte auf Kanellas Stirn. »Sei vorsichtig«, bat sie ihn. »Wenn es zu schwierig wird, dann lass es nicht drauf ankommen. Wir können uns immer noch zur Umkehr entschließen und den Winter in Breasel verbringen. Ich verliere lieber den Jahresgewinn als dich und Esmeralda.«
»Mach dir keine Sorgen, Liebling. Ich pass schon auf mich auf.« Tormon stellte sich an den Rand der Biegung, wo das Wasser von den Felsen herunterstürzte und ein Stück des Passes in ein neues Flussbett verwandelte. Esmeralda legte die langen braunen Ohren an und sah ihn unter den zotteligen Stirnhaaren hinweg mit aufgerissenen Augen an. Tormon musste sie sofort antreiben, bevor sie ihre Lage begriff, denn in dem Fall hätte sie die Hufe in den Boden gestemmt und wäre zu einem unverrückbaren, braun-weiß gescheckten Klotz erstarrt. »Los, komm!« Er gab ihr einen Klaps auf das Hinterteil, und Esmeralda setzte sich mit empörter Miene in Bewegung.
Tormon fröstelte, als ihm das eiskalte Wasser in die Stiefel drang. Zuerst ging alles besser als erwartet. In dem engen Hohlweg toste der Wasserfall zwar beängstigend laut, jedoch reichte ihm das Wasser gerade bis an die Knie, und der Schlamm war bereits weggespült, sodass er auf festen Grund trat. Mit einiger Vorsicht sollte es ihm und Kanella gelingen, den Wagen und die Pferde ohne allzu große Schwierigkeiten hinüberzubringen …
Tormon war so sehr mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie die Pferde und den plumpen Wagen am besten hindurchmanövrierten, dass er es nicht bemerkte, als das wirbelnde Wasser plötzlich tiefer wurde. Er watete um die Biegung, und ihm stockte der Atem.
Der befürchtete Erdrutsch hatte tatsächlich stattgefunden. Tormon stieß einen kräftigen Fluch aus und blickte bestürzt auf die Bescherung. Dann konzentrierte er sich still auf das nächstliegende Problem, und bei näherem Hinsehen erwies sich das Hindernis als weniger schlimm. Zum Glück war die Schlammlawine an einer Stelle niedergegangen, wo der Weg breit war und wo das meiste auf der anderen Seite ins Tal stürzen konnte. Außerdem hatte sich nur ein schmales Stück des Abhangs gelöst. Der Weg selbst war vor allem durch verwirrte Kiefernäste versperrt. Ein paar Stunden harter Arbeit mit Schaufel und Axt, dachte Tormon, und der Weg ist wieder passierbar, zumal wenn die Pferde und Esmeralda die Baumstämme wegziehen. Die einzige Gefahr bestand in einem weiteren Erdrutsch und dürfte nicht unterschätzt werden. Andererseits war der Hang an dieser Stelle bereits kahlgefegt. Mit ein wenig Glück könnten sie vielleicht vor Anbruch der Nacht in Tiarond sein und sich für einen friedlichen und einträglichen Winter einrichten.
Tormon klopfte der Eselin, die an seiner Seite unruhig hin und her trat, auf den Hals. »Komm, mein Mädchen! Lass uns die Axt holen und loslegen!«
Tatsächlich bedeutete es harte Plackerei, die widerstrebenden Pferde und den schweren Wagen durch das reißende Wasser zu führen, ganz zu schweigen von Esmeralda mit dem zweirädrigen Karren. Für Kanella war es die reinste Knochenarbeit. An der verschütteten Wegstelle, half sie Tormon nach Kräften mit Axt und Schaufel bei der Räumung, damit sie den Pass so schnell wie möglich hinter sich
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