Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
hätten schon längst fort sein müssen.* Dann war Thirishris Gegenwart nicht mehr spürbar. Auch gut, dachte Elion. Er war es müde, und es machte ihn krank, ihren Rat zu hören. Natürlich stimmte es: Er hasste sich selbst, und er hatte seine Partnerin enttäuscht. Wie könnte er sich das jemals verzeihen? Aber der Fehler hatte nicht nur bei ihm gelegen. Veldan hatte ihn gezwungen, Melnyth zu verlassen, und sie hasste er noch mehr als sich selbst.
Elion verließ die Schutzhöhle und war erleichtert, weil bereits der Morgen dämmerte. In der Dunkelheit drinnen verlor man leicht das Zeitgefühl. Ein sonniger Tag mit nur wenigen Wolken am Himmel kündigte sich an. Der Wissenshüter straffte die Schultern und atmete tief die kühle Luft ein. Das Hochmoor war Balsam für seine wunde Seele, denn in der weiten Landschaft rückten seine Sorgen in die Ferne und erschienen gering. Die Luft roch rein und würzig, und das Rauschen des Windes ließ die tiefe Stille in den Hügeln nur umso deutlicher werden.
Als der Wind wie eine Flöte klang, wusste Elion, dass Thirishri zurückgekehrt war. *Bist du bereit?*, fragte sie, denn sie würden bald die Schleierwand durchschreiten müssen. Elion seufzte. Er fürchtete sich wahrhaftig, das sichere Gendival zu verlassen, und der Gedanke an die kommenden Tage erfüllte ihn mit Beklommenheit.
*Nun komm*, drängte der Luftgeist. *Je eher wir losgehen, desto früher ist alles vorbei.*
Elion starrte finster in die Luft. Warum musste sie nur ständig so fröhlich klingen? »So oder so«, brummte er.
Thirishri lachte, und ein Windstoß traf Elion am Hinterkopf. *Falls du mich meinst, ich bin hier drüben.*
Elion quetschte einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Von allen Partnern, die ihm der Archimandrit auf den Hals hetzen konnte, war sie der Schlimmste. Wie sollte er sich gegen einen Luftgeist wehren! Das Benehmen seines Pferdes half ihm auch nicht gerade aus der schlechten Laune heraus. Es war eine schnaubende, unruhige Bestie mit Zähnen wie Axtblätter, von der Cergorn ihm aber versichert hatte, dass sie das schnellste Reittier in Gendivals Ställen sei. Elions eigenes Tier war eine robuste, freundliche Stute gewesen, die gegenüber seinen reiterlichen Unzulänglichkeiten immer unendliche Geduld gezeigt hatte. Doch sie war auf dem Rückmarsch von der schicksalhaften Ak’Zahar-Mission verloren gegangen. Er vermisste sie schmerzlich, obwohl er diese dummen Tiere gemeinhin nur als Fortbewegungsmittel ansah. Anders als dieses Scheusal von einem Fuchs war seine Stute gehorsam und sanftmütig gewesen. Nie hatte sie versucht, ihn zu stoßen oder zu treten, ihn gegen irgendeine Felswand zu quetschen oder ihn an niedrigen Ästen abzuwerfen. Sie hatte auch niemals den Kopf nach hinten gedreht, um ihn ins Hinterteil zu beißen, wenn er aufsitzen wollte. Nachdem er den Bauchgurt enger geschnallt hatte und auf das tänzelnde Pferd gestiegen war, fühlte er sich, als habe er bereits sein Tagwerk vollbracht, und die Tatsache, dass er es – so weit – mit heiler Haut geschafft hatte, kam ihm wie eine wunderbare Überraschung vor.
Der Weg, kaum breiter als ein Trampelpfad, führte in vielen Kurven über das weite grüne Hügelland und stieg dann in sanftem Bogen in ein Tal mit hohen Wiesen hinab, das sich lang und gerade zwischen zwei Bergen hinzog, um dann plötzlich wie im Nichts in der Schleierwand zu verschwinden.
Auch in seinen zehn Jahren als Wissenshüter hatte sich Elion niemals an ihre schiere Ungeheuerlichkeit gewöhnen können. Der Anblick dieser magischen Grenze, die sich überall auf Myrial erhob, erfüllte ihn mit einer geradezu abergläubischen Ehrfurcht und Angst. Die Barriere erstreckte sich endlos in beide Richtungen und schnitt jede Sicht auf das Dahinterliegende ab. Sie ließ sich am besten mit einem gigantischen Wasserfall vergleichen, nur dass dieser von unten nach oben floss, gewissermaßen also dem Boden entsprang und in den Himmel strömte, bis er nicht mehr zu sehen war. Die Schleierwand sah anders aus als sonst: Sie zeigte ein milchiges, bläuliches Weiß, und an einigen Stellen leuchtete sie blau, grün, rot oder gelb. Die Wand rauschte in der Tat wie ein Wasserfall, aber in tausendfacher Verstärkung. In die tosende Lautstärke mischte sich ein Knacken und Krachen wie von einem Feuer und ein klagender, hoher Summton.
Elion runzelte die Stirn. »Diese Farben sollte es nicht geben. Die Klarheit ist verschwunden. Ich habe noch nie dieses abscheuliche milchige Licht
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