Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
der Hierarch noch nie an ihm gesehen hatte. »Darf ich dir eine kleine Entschädigung für deine Prüfungen anbieten, meine Dame? Ich habe gerade einen vortrefflichen neuen Tee erhalten, eine auserlesene, schmackhafte Mischung aus den Blumen des Südens.« Und mit berechnendem Charme fuhr er fort: »Was sagst du dazu, Seriema? Verdienen wir nicht ein klein wenig Sommersonnenschein an diesem düsteren Regentag?«
Die schlechte Laune verschwand aus ihrem Gesicht. »Nun denn, ich danke, Hauptmann Blank. Eine Tasse Tee wäre mir sehr angenehm.«
Er legte galant eine Hand unter ihren Ellbogen und geleitete die mächtigste Frau von Callisiora zu seinen Räumen innerhalb der Zitadelle. Jetzt habe ich dich, dachte er. Bei allem, was heilig ist, du warst schwer zu bezaubern. Wahrscheinlich, weil noch kein Mann den Versuch wagte. Oder weil noch niemand als erstrebenswert erachtete, was sie zu bieten hat – von Macht und Reichtum einmal abgesehen.
Seit Jahren eilte Seriemas Ruf ihr überallhin voraus, und die dornige, misstrauische und gemiedene Jungfrau war den meisten Männern als zu große Herausforderung erschienen. Blank indes zählte sich keineswegs zu den ›meisten Männern‹. Seriemas Vertrauen zu gewinnen hatte ein kunstvolles, sensibles Vorgehen erfordert, denn sie war zu scharfsinnig und klug, um sich von einfachen Schmeicheleien übertölpeln zu lassen. Heute aber hatte sie zum ersten Mal einem Besuch in seinem Quartier zugestimmt. Während sie über den nassen Hof gingen, unterhielt er sie mit höflichem Geplauder, wusste er doch, dass er ihr innerhalb der nächsten halben Stunde jede Einzelheit des Gesprächs mit dem Hierarchen entlocken würde. Insgeheim hielt er es bereits für sicher, dass sie von Zavahl das Große Opfer gefordert hatte. Blank vertraute fest darauf – nach all der Anstrengung, die es gekostet hatte, diese Idee in ihrem Kopf zu verankern.
»Lass mich allein!« Schroff wie immer entließ Zavahl seinen Diener. Der Mann huschte davon und floh aus dem Raum, ganz offensichtlich erleichtert, der Gegenwart seines Herrn zu entkommen. Zavahl ließ die Mahlzeit unbeachtet und wandte sich zum Fenster. Er blickte über die Dächer des Heiligen Bezirks. Die hohen Felswände der dunklen Schlucht waren ihm immer als sicherer Schutz erschienen. Doch jetzt fühlte er sich preisgegeben. Zum ersten Mal seit dem Knabenalter wusste er wieder, was es bedeutet, Angst zu haben. Der Gott, dem zu dienen er einzig lebte, hatte sich von ihm abgewandt, und das Land, das er regierte, siechte dahin. Nun würde auch er sterben müssen – aber wie den Mut dazu finden? Er wusste sehr gut, dass sein Schicksal unabwendbar war – bot er sich nicht freiwillig zum Großen Opfer an, würden seine Untertanen die Entscheidung fällen.
»Oh, Einziger, hast du mich verlassen?«
Er versuchte zu beten, doch die rechten Worte wollten ihm nicht einfallen. Wie sollte er zu Myrial sprechen, wenn der Gott sein Flehen nicht erhörte? Er ließ sich auf die Bank des hohen Turmfensters niedersinken und schaute in den dichten Regen hinaus, den der Wind wie einen Vorhang hin und her bewegte. Unterhalb der Felsen lag die Stadt, die er regierte und die nun dem Verfall ausgesetzt war. Das unaufhörliche Prasseln, Stunde um Stunde, Tag um Tag, raubte ihm jede Ruhe und machte ihn verzagt. Wenn er immerzu das gleichmäßige Trommeln der Regentropfen anhören musste, wie sollte er dabei nachdenken, zu einem Entschluss kommen – oder überhaupt beten können?
O Gott, warum hast du uns verflucht? Bald wird niemand mehr da sein, um dich zu verehren … Und mir bleibt kaum noch Zeit, da die Bewohner von Tiarond ihren Respekt vor Myrials nutzlosem Stellvertreter verloren haben. Sie machen mich für die Zerstörung ihrer Welt verantwortlich und wollen dafür meinen Tod.
Die Mitglieder des Bergbaukonsortiums werden nicht die Einzigen sein, die unzufrieden sind. Jedoch ist nur Seriema Manns genug, geradeheraus zu sagen, was jedermann denkt, überlegte Zavahl. Schon einige Zeit herrschte diese hässliche Stimmung in der Stadt, Anspannung und Verzweiflung lagen in der Luft. Morde und Plünderungen waren innerhalb handhabbarer Grenzen geblieben, aber die Anzahl der Wachpatrouillen hatte erhöht werden müssen. Die Enttäuschung über sein Versagen und der Zorn über die Hungersnot nahmen über alle Maßen zu und ließen sich nicht noch länger eindämmen. Die Staumauer aus Tradition und Ehrfurcht bröckelte jeden Tag ein wenig mehr. Am Abend des
Weitere Kostenlose Bücher