Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Todes würde sie brechen, und Seriemas Werk wäre getan. Der Zorn des Volkes würde sich über einen Mann ergießen: Zavahl, den gescheiterten Hierarchen.
Abrupt drehte er sich um und fegte das Gedeck vom Tisch. Das Porzellan ging in Scherben, das Essen spritzte auf den Teppich. Ungläubig blickte er auf die Bescherung, dieser heftige und unerwartete Anfall von Gewalt schockierte ihn. Er hatte seine Gefühle immer so gut im Zaum gehabt!
Was geschieht mit mir? Verliere ich den Verstand?
Der Hierarch wandte seine Gedanken von dieser düsteren Überlegung ab. Zeit seines Lebens war er immer sehr zurückgenommen und selbstgenügsam gewesen, hatte die Einsamkeit mit der Amtsrobe angezogen. Aber in allen fünfunddreißig Jahren hatte er sich niemals so allein und verletzbar gefühlt. Die Wände seines kargen Zimmers umgaben ihn wie ein Gefängnis, die mächtigen Mauern trennten ihn von allem Leben im Reich ab. Seine Selbstbeherrschung war bei dieser Zerreißprobe dem gefährlichen Punkt nahe.
Und alles war sein Fehler.
Nur einmal in seinem Leben, in jener schwarzen Nacht vor drei Jahren, hatte sein starker Wille nachgegeben, war er der Versuchung erlegen. Und dies war nun die Folge. Myrial strafte das ganze Land für seine Schwachheit. Dass der Gott nicht mit dem gemeinen Volk zürnte, sondern allein mit ihm, das war seine größte Angst.
Er war der Hierarch, der Priesterkönig, der in Myrials Namen herrschte. Stellvertreter eines Gottes zu sein war keine leichte Verantwortung – und offenbar hatte er darin versagt. Wie konnte ein einzelner Mensch solche Schuld tragen und überleben? Selbst das Essen auf dem Tisch bezeugte seine Schuld. Als der Hierarch war er immer nur mit dem Besten versorgt worden, ganz gleich wie knapp die Vorräte in der Stadt wurden, doch das Volk hungerte.
Zavahl schürzte die Lippen. Er, der vor vielen Jahren geschworen hatte, seine fleischlichen Gelüste in die reine, verklärte Liebe zu seinem Gott umzuwandeln, musste sich nun für seine Schwachheit verachten. Er hatte sich von den Bedürfnissen seines aufbegehrenden Körpers verleiten lassen. Nur einmal hatte er seine körperlichen Gelüste befriedigt, doch einmal zu viel.
Seine Rastlosigkeit trieb ihn an, etwas zu unternehmen, und er schob den schweren Vorhang im Eingang zurück und eilte die kurze Treppe hinauf in sein Schlafgemach. Im Korridor gab es keine Wandbehänge, und der nackte Stein strahlte eine klamme Kälte aus. Gnädigerweise war die Luft im Schlafgemach etwas wärmer, und Zavahl war froh, dass die Diener das Feuer schon angezündet hatten. Außer den reichen Erzvorkommen im Gebirge, die die Quelle für den beträchtlichen Reichtum der Stadt waren, wurde auch viel Kohle abgebaut, und in den Räumen des Hierarchen brannte immer ein Feuer. Die mächtige Basilika, Tempel und Palast zugleich, war aus dem geweihten Berg herausgehauen worden. Und wie Zavahl schon vor langer Zeit festgestellt hatte, verursachte das Leben in einem Berg ein gehöriges Maß an Unannehmlichkeiten.
Der Hierarch ging am Kamin vorbei, ignorierte die Verlockung, sich davor niederzulassen, und gönnte sich nur einen Augenblick lang die wohlige Wärme. Er öffnete den Schrank aus poliertem Holz, der in einer Ecke des Zimmers stand, und nahm eine schwarze Maske aus weichem Leder heraus. Er legte sie an und schaute in den Spiegel. Sein glattes, schulterlanges Haar, das in mehreren Brauntönen schimmerte, war dasselbe geblieben. Aber die asketische Schroffheit war aus seinem Gesicht verschwunden. Die Verkleidung verwischte die Strenge und verlieh ihm weichere Züge. Durch die Öffnungen blickten ihn seine dunklen Augen an, wachsam und ausdruckslos wie immer, und taxierten ihn kalt. Nur der Mund verriet das Geheimnis seiner Wollust, das in seinem Innern eingeschlossen war.
Beim Anblick der geheimnisvollen Gestalt auf der anderen Seite des Spiegels empfand er schuldbewusst eine prickelnde Freude. Der Hierarch von Callisiora war verschwunden, an seine Stelle war ein rätselhafter Fremder getreten, ein unbekannter Schemen, der Taten vollbringen und Vergnügungen nachgehen konnte, an die der Hierarch nicht einmal denken durfte. Indem er die Maske anlegte, warf Zavahl sein Gewissen ab. Ein Leben lang hatte es ihn gequält, ihn auf Schritt und Tritt verfolgt mit der Hartnäckigkeit eines jammernden Kindes, das einen zur Verzweiflung treibt. Zavahl, der Hierarch, wurde Zavahl, der Mann …
Doch dann bedachte er sich selbst mit einem höhnischen Lächeln. Unter
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