Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
dieser Maske hatte er einst die selbstauferlegte Härte durchbrochen und seinen Gott verraten. Er war in die Stadt hinuntergegangen, um eine Nacht finsterer Ausschweifungen in den Tavernen und bei den Huren zu verbringen. Damals hatte er gewusst, dass er eines Tages für diese Verfehlung bestraft werden würde, und nun war die Zeit gekommen. In der nächsten Nacht schon würde er an einen Pflock gebunden werden und im großen Feuer brennen, bis seine Schreie verstummt, sein Fleisch verkohlt wäre. Seine Seele würde mit dem Rauch aufsteigen und bei Myrial Fürsprache einlegen, um die Zukunft derselben verdammten Huren und ähnlicher Missratener zu retten. Zavahl ballte die Fäuste und grub die Fingernägel ins Fleisch, um das Zittern zu unterbinden. Oh Gott, ich fürchte mich so sehr. Ich will nicht sterben …
Nahende Schritte rissen ihn aus seinem Tagtraum. Sie erstiegen die Turmstufen bis zu seinem Zimmer, dann klopfte es lebhaft an die Tür. Zavahl erschrak, riss sich die Maske vom Gesicht, als habe sie ihn verbrannt, und ließ sie hastig in seiner Robe verschwinden. Dem schuldbewussten Schrecken folgte der Zorn. Die Flucht dieser Räume war seine geheiligte Privatsphäre, seine Zuflucht vor den Belastungen des hochgestellten Amtes. Kein Diener wagte ihn hier zu stören, es sei denn, er wäre eigens gerufen worden. Bei dem Eindringling konnte es sich nur um eine Person handeln: seine Stellvertreterin, die Suffraganin Gilarra.
»Zavahl? Bist du da?« Die Atemlosigkeit durch das Treppensteigen zügelte ein wenig ihre volltönende Stimme.
Zavahl verdrängte den Mann in sich, er straffte die Schultern und glättete seine lange schwarze Robe. Mit einiger Anstrengung zwang er seine Gesichtszüge in die alte unbewegliche Maske, um die Ängste und Zweifel zu verbergen und auch die Schuldgefühle, die ihm alle Zeit anhafteten wie der laszive Duft von Räucherstäbchen. Hastig schritt er durch das Zimmer, als könne er mit der Bewegung das schlechte Gewissen abschütteln, eilte durch den kalten Korridor zurück in den Wohnraum und riss energisch die Tür auf. »Ich hoffe, dass die Dringlichkeit deiner Mitteilung die Störung rechtfertigt«, grollte er.
Da stand sie: klein, stämmig und schlicht gekleidet. Ihr bestes Kleidungsstück war das glänzende braune Haar, das wie ein Umhang ihren Rücken bedeckte. Sie warf einen empörten Blick zur Decke. »Sie waren immerhin so viel wert, dass ich diese ganzen verfluchten Treppen hinaufgerannt bin«, fauchte sie. »Warum kannst du nicht, wie jeder normale Mensch, im Erdgeschoss Trübsal blasen?«
»Weil ich der Hierarch bin.«
Jeder andere wäre bei dieser schneidenden Stimme verstummt. Nicht so Gilarra. »Du bist ein Geschwür am Hintern, wenn du mich fragst. Du vergisst, dass du deinen Rang nur dem Zufall der Geburt verdankst. Wenn du nur zehn Atemzüge später zur Welt gekommen wärst -«
»- dann wärst du der Hierarch geworden«, schloss Zavahl. »Und du vergisst es keinen einzigen Augenblick, nicht wahr?«
Gilarra starrte ihn an, ihre Augen funkelten vor Zorn. »Die Dinge stünden heute anders, so viel ist sicher.«
»Du willst damit sagen, dass alles -« Zavahl deutete mit einer heftigen Bewegung zum Fenster – »meine Schuld wäre? Ich wusste es doch! Du hast es immer gewollt, dass ich das Große Opfer werde. Nun, jetzt bekommst du deinen Willen. Und wenn du mich dann losgeworden bist, wirst du Regentin sein, bis mein Nachfolger alt genug ist, um zu herrschen.«
Gilarra seufzte und schob sich eine Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht. Sie machte einen müden und unglücklichen Eindruck. »Um Myrials willen, sei nicht so dumm. Wir haben genug Probleme, ohne dass du noch welche dazu erfinden musst. Glaubst du wirklich, ich möchte das Land in diesem unseligen Zustand übernehmen? Dazu besitze ich zu viel Verstand -« Sie riss die Augen auf, als sie den Inhalt seiner Erwiderung endlich begriff. »Das Große Opfer? Zavahl, nein! Das meinst du nicht ernst!«
Zavahl bezweifelte die Aufrichtigkeit ihres Protestes. Sie wäre glücklich, ihn aus dem Weg zu haben, dessen war er sicher, wenn sie es auch nicht zugeben wollte, nicht einmal vor sich selbst. Er sah sie eine Weile scharf an. »Wenn sich bis zur Festnacht des Todes nichts ändert, gibt es für mich keinen anderen Weg. Du weißt das, Gilarra. Warum also hören wir nicht auf, uns etwas vorzumachen? Wenn wir die Entscheidung verzögern, werden unsere geliebten Untertanen sie uns abnehmen. Ich hatte bereits ein
Weitere Kostenlose Bücher