Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Gespräch mit der Dame Seriema vom Bergbaukonsortium über eben dieses Thema – wie viel Schaden würde noch angerichtet werden, und wie viele müssten ihr Leben in den Aufständen verlieren, die daraus entstünden, wenn ich mich weigerte?« Er schüttelte den Kopf. »Lüge mich bitte nicht an. Nicht einmal aufgrund einer falsch verstandenen Freundlichkeit. Du bist nicht als Einzige zu dem Schluss gekommen, dass Myrial einen neuen Hierarchen verlangt. Und das weißt du. Weder in dieser noch in der nächsten Welt will jemand, dass ich weiterhin regiere. Und alle scheinen darin übereinzustimmen, dass ich ihnen mehr nütze, wenn ich tot bin.«
»Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst«, flüsterte Gilarra.
Zavahl zuckte die Schultern. »Es gibt keine andere Möglichkeit«, meinte er leichthin, doch er konnte ihr dabei nicht in die Augen sehen, wenn er nicht die Haltung verlieren wollte. Er trat ans Fenster und fuhr fort: »Ich möchte, dass du mit den Vorbereitungen der Zeremonie beginnst – morgen ist der Abend des Todes, wir haben also nicht viel Zeit.« Seine Angst machte ihn grausam. »Ich fürchte, du selbst wirst die Opferung durchführen müssen. Am besten denkst du dabei an die Macht, die du haben wirst, sobald ich nicht mehr bin. Das sollte ein paar unerfreuliche Erinnerungen wert sein.«
In dem Maße, wie ihr Schweigen andauerte, erkannte er, wie tief er sie getroffen hatte. Gilarra war schon immer zu weichherzig gewesen. Er wagte nicht, sich zu ihr umzudrehen. Wie hätte er irgendjemandem das Ausmaß seiner Zweifel, seiner Angst, seiner Feigheit zeigen können? Seine Pflicht stand ihm klar vor Augen. Jeder andere Hierarch, der diesen Namen wert wäre, würde sich zweifellos unerschrocken seinem Schicksal stellen und kaum vor Angst schlottern wie Zavahl. Es war nicht verwunderlich, dass Myrial ihn fallen gelassen hatte! Aber er hielt es für eine Frage des Stolzes, dass er niemanden merken ließ, was er wirklich empfand, nicht einmal sie, die ihn von allen am besten kannte. Wenn sie auch im Alter nur zehn Atemzüge auseinander lagen und wie Bruder und Schwester im Heiligen Bezirk aufgezogen worden waren, so vergaß er doch nie, dass sie die Stellung des Hierarchen begehrte und sich eine Vertauschung ihrer Rollen wünschte.
Das Verfahren der Wahl des Priesterkönigs war älter als die Geschichtsschreibung in Callisiora. Nach dem Tod des Amtsinhabers war das erstgeborene Kind innerhalb des Heiligen Bezirks zum Nachfolger bestimmt, sei es nun der Nachkomme einer Priesterin, einer Schreiberin oder auch nur einer Dienerin. Wenn das Kind männlichen Geschlechts war, wurde das nächstgeborene Mädchen Suffraganin. War das Erstgeborene aber weiblich, so bekleidete eine Frau das Amt des Hierarchen, und während ihrer Herrschaft dominierten die weiblichen Anteile der Gottheit; Myrial wurde dann als Göttin verehrt. Wenn aber, wie gegenwärtig, der Hierarch ein Mann war, herrschte die männliche Seite Myrials vor.
»Zavahl? Hörst du mir zu?«
Der Hierarch hatte sich wieder unter Kontrolle und drehte sich um. »Sieh mal, du kannst nicht einfach so aufgeben«, fuhr sie beunruhigt fort. »Das ist lächerlich – du bist überreizt.« Sie blickte streng auf das zerbrochene Geschirr und das verschüttete Essen auf dem kostbaren Teppich. »Wie lange ist es her, dass du geschlafen oder gegessen hast? Du musst dir Ruhe gönnen – dann wirst du vielleicht einen Ausweg finden.«
Zavahl schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schlafen. Das Trommeln dieses verfluchten Regens dringt bis in meine Träume.«
Gilarra machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du bist zu viel allein. Das bekommt dir nicht. Es gibt kein verbindliches Gebot, wonach der Hierarch oder sein Stellvertreter keine Lebensgefährtin haben darf. Ich sehe nicht ein, warum du Enthaltsamkeit trotzdem für nötig oder auch nur für förderlich hältst. Wenn du jemanden hättest, dem du dich zuwenden könntest – eine Geliebte wenigstens –, dann würdest du diese Krise bewältigen.«
»Wie du, meinst du wohl?« höhnte Zavahl. »Die meist geehrte und höchstrangige Frau von Callisiora, die im Handwerkerviertel lebt und sich vermehrt wie der gemeinste Bauer?«
Gilarra trat mit blitzenden Augen auf ihn zu, und für einen Augenblick glaubte Zavahl, dass sie ihm ins Gesicht schlagen würde. Doch dann gewann sie die Selbstbeherrschung wieder, holte tief Luft und zischte ihn an: »Zavahl, du bist ein kaltherziger, verachtenswerter Narr. Bevron ist mein
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