Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Hintern auf der Gasse.
Sie schaute Scall seufzend von der Seite an, der den Blasebalg mit irrer Hast betätigte. Ein Ausdruck grimmiger Konzentration lag auf seinem Gesicht. »Im Rhythmus, Junge!«, schnaubte sie. »Du musst ihn gleichmäßig halten!«
Wieder stockte das Rauschen des Blasebalgs, während Scall ohne jeden Erfolg versuchte, seinen Kicheranfall im Zaum zu halten. Wenn der Junge nicht schon von der Hitze puterrot gewesen wäre, er hätte spätestens jetzt ausgesehen wie eine rote Rübe. Agella blickte stöhnend zur Decke. Du bist es selbst schuld, sagte sie sich. Hättest es wissen müssen. Und eine Erinnerung stieg in ihr auf, von einem stämmigen, sommersprossigen Rotschopf von vierzehn Jahren, die mit ihren Freundinnen über jede dumme Andeutung und jeden zweideutigen Witz gekichert hatte. Dreißig Jahre war es her, und es kam ihr vor, als sei es gestern gewesen …
Myrial in der Regenrinne! Jetzt beschert mir der Junge schon Tagträume! Mit einem vollmundigen Fluch versenkte Agella das bereits abkühlende Eisen im Wassertrog. Es zischte und dampfte gewaltig. Sie wischte sich die schweißige Stirn mit einem Stofffetzen, der von Funken durchlöchert war, und drehte sich zu ihrem Lehrling um. Der wich ängstlich vor ihr zurück. Er wusste es immer, wenn er etwas verbockt hatte, doch das hielt ihn nicht davon ab, genau dasselbe beim nächsten Mal wieder zu tun. »Scall – wirst du wohl das verdammte Kuschen sein lassen! Die Leute werden noch denken, dass ich dich grün und blau schlage, während ich dich in Wirklichkeit nicht einmal halb so viel strafe, wie es nötig wäre, du Nichtsnutz!«
Scall biss sich auf die Lippen und starrte auf seine Füße. »Tut mir Leid, Tante Agella«, murmelte er.
Die Schmiedin schüttelte den Kopf. »Was sollen wir bloß mit dir anfangen?«, fragte sie ihn, aber ihr Tonfall war schon etwas milder. Eigentlich hatte sie ihn ganz gern, ihren tollpatschigen, zerstreuten Neffen, aber es wurde für sie beide höchste Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Scall war ein Nichtsnutz – und sie selbst, als die Schmiedin des Heiligen Bezirks, Basilika und Zitadelle inbegriffen, steckte bis über beide Ohren in Arbeit. Sie brauchte einen Lehrjungen, der lernte. Einen Helfer, der half und nicht hinderte.
Scalls dunkle Augen, die in seinem mageren Gesicht riesig erschienen, hefteten sich auf Agella mit dem Ausdruck eines Hundes, der unter dem Tisch auf einen Bissen wartet. Er getraute sich nicht zu sprechen, aber Agella wusste genau, dass er sie im Stillen anflehte, ihn nicht hinauszuwerfen. Das konnte sie ihm kaum verübeln. Ohne sie sähe seine Zukunft in der Tat düster aus. Als er vor einem halben Jahr zum ersten Mal die Ställe und Zwinger des Hierarchen gesehen hatte, war er in ungläubiges Staunen und Ehrfurcht verfallen. Da war er noch dreizehn gewesen, ein schüchternes Kind, mürrisch und zutiefst nachtragend gegenüber der Mutter, die ihn fortgeschickt, und gegenüber der Tante, die ihr die Möglichkeit dazu geboten hatte. Nur widerstrebend hatte Agella ihrer Schwester den spindeldürren und verträumten Sohn abgenommen, obwohl sie und Viora nicht miteinander auskamen. Andererseits fehlte ein besserer Bewerber. Viora jedenfalls hatte ihr Anerbieten dankbar und in beinahe unziemlicher Hast angenommen. Ihr Lebensgefährte, der ein Schneider ohne nennenswerte Kunstfertigkeit gewesen war, bis die Gicht seine Hände in nutzlose Klauen verwandelt hatte, verbrachte seine Tage unter lähmenden Schmerzen und war nicht in der Lage, seine Familie zu ernähren. Ein aufgeweckter, nützlicher Sohn hätte dieser unglücklichen Familie eine Hilfe sein können, doch der unbeholfene, mürrische Scall bedeutete eher eine zusätzliche Bürde. Nachdem sie ihn – hoffnungsfroh – in die Lehre gesteckt hatten, wo er Essen, Kleidung und Unterkunft bekam, konnten sie es sich leisten, mit der jungen Tochter und deren Lebensgefährten in die Unterstadt zu ziehen. Dort war ohnehin kein Platz für Scall, denn er wäre einer zu viel in diesem engen Haus gewesen, und der Schwager hätte für den Träumer keine Verwendung gehabt. Wenn ihn die Tante und Lehrmeisterin jetzt hinauswerfen würde, wäre er daheim nicht mehr willkommen. Er müsste auf der Straße leben, und das könnte er bei den gegenwärtigen Zuständen keine zwei Tage lang überstehen.
Agella schaute ihn mitleidig an. »Geh, Junge. Spring zum Braumeister rüber und hol mir ein Bier – und eins für dich, wo du gerade dabei
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