Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
davor zurückgeschreckt sein, den Vater zu töten, nachdem er es sich mit der Frau so leicht gemacht hatte. Gilarra hoffte, dass Galveron noch vor der Rückkehr des Hierarchen wieder in der Zitadelle sein würde. Denn im Augenblick konnte sie nichts für ihn tun. Sie versuchte ihrer Aufregung Herr zu werden, doch sie rang unablässig die Hände. Wie würde sie Zavahl ins Gesicht sehen können, da sie nun wusste, was er auf sich geladen hatte? Was war mit ihm geschehen? Er war immer so melancholisch und verletzlich gewesen, ein geistreicher, wenn auch fehlerhafter Mensch. Er war ihr wie ein Bruder gewesen, als sie noch Kinder waren, und später war er beim Großen Sonnenwendritus ihr Geliebter geworden. Ich kenne dich nicht mehr, Zavahl, dachte sie mit bitterer Traurigkeit. Aber habe ich dich jemals wirklich gekannt? Oder habe ich mich all die Jahre in dir getäuscht?
Gilarra faltete die Hände und kniete neben dem Bett nieder, in dem ihr kleiner Gast lag und schlief. Sie betete zu Myrial für das Kind. Und für Zavahls gepeinigte Seele.
Das Ärgerliche an den Menschen ist, dass sie sich so langsam fortbewegen, dachte Thirishri. Ungeduldig beobachtete sie Elions Vorwärtskommen, der sich noch auf dem Weg zum Schlangenpass abmühte. Sie war ihm unterdessen weit vorausgeeilt.
Einerseits musste sie ihren Partner im Auge behalten, andererseits trieb die Sorge sie voran. Veldan hatte ihren verzweifelten Hilferuf von der anderen Seite des Passes abgesandt. Genauer hatten die altgedienten Wissenshüter ihren Aufenthaltsort nicht bestimmen können. Seitdem waren ein Tag und eine Nacht vergangen, und der nächste Abend senkte sich bereits über das Gebirge. Dass man seitdem nichts mehr von Veldan gehört hatte, legte nahe, dass es keine Überlebenden gab. Und wenn doch? Der Luftgeist hatte es nicht länger ertragen können, sich an das menschliche Schneckentempo anzupassen. Stattdessen erkundete Thirishri die andere Seite des Berges, wo es nach Tiarond hinabging.
Ein Luftgeist besitzt eine ganz andere Sehkraft als ein Mensch. Die Luft ist sein Lebenselement wie die Erde für die Gaeorn und das Wasser für einen Afanc. Thirishri war für menschliche Augen unsichtbar und nach menschlichem Ermessen körperlos. Für sie war die Luft zugleich Schutz und Nahrung und sogar Fortbewegungsmittel, wenn sie auf ihren Strömungen ritt. Sie vermochte die Luft auch als Waffe einzusetzen, denn sie konnte die eigene Gestalt nach Belieben ändern und, indem sie Tentakel bildete, die Luft zu einem Wirbelwind oder zu einem Sturm aufpeitschen, ja sogar zu einer unsichtbaren Barriere zusammenpressen, wenngleich diese Prozedur ihre Kräfte für einige Zeit erschöpfte. Und indem sie ihre Vorstellungen den Lüften einflößte, konnte sie Trugbilder erzeugen, die ohne den Versuch der Berührung nicht von einer körperhaften Wirklichkeit zu unterscheiden waren. Thirishri nahm die Ströme der Luft so wahr, wie ein Mensch die Bewegungen des Wassers. Sie erkannte an den Verwirbelungen der Luft, ob dort kürzlich ein Mensch gegangen war oder ob ein Erdrutsch stattgefunden hatte. Die Spuren eines Lebewesens blieben einige Stunden erhalten, an windstillen Tagen sogar länger, und vermittelten ihr einen Rückblick auf die jüngsten Ereignisse eines Ortes. Ein so verheerendes Geschehen wie ein Erdrutsch verursachte eine Störung, die mehrere Tage anhielt.
Als Thirishri den höchsten Punkt erreichte, begriff sie sofort, was geschehen war. Dazu brauchte sie gar nicht erst einen Blick auf die lange schlammige Spur zu werfen, von der die Flanke des Berges verunziert wurde wie von einer Narbe. Ein Abbild der Katastrophe hing in der Luft und wartete nur darauf, von jenen erblickt zu werden, die die Gabe dazu besaßen. Thirishri entwirrte das Netz der Spuren und Abbilder, spürte die geisterhaften Doppelgänger der drei auf und erkannte, was mit ihnen geschehen war.
*Ich habe die Stelle gefunden.* Sie sandte die Worte an Elion, ohne ihre Bestürzung zu verhehlen. *Ein Erdrutsch hat sie begraben, ganz wie wir es vermutet haben.*
Der Mensch öffnete sich zu einer Antwort, und für einen flüchtigen Augenblick quollen seine starken Empfindungen hervor und wurden von Thirishri aufgefangen, dann erlangte er die Selbstbeherrschung zurück und verschloss sich dem Luftgeist wieder. Bedauern, Angst und Sorge hatte Thirishri gespürt, aber auch einen wilden Jubel, selbstgefällige Rachegelüste und einen schändlichen, verdrehten, krankhaften Neid auf Veldans
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