Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Tod.
Thirishri verbarg ihre Bestürzung darüber, was Elion unbeabsichtigt offenbart hatte. *Sie müssen nicht tot sein*, wandte sie ein. *Die Spuren sind sehr verworren, und einige führen den Berg hinunter. Ich muss sie aus der Nähe entschlüsseln … Warte! Was ist das?* Der Geist schwang sich weiter hinab und entdeckte eine Gruppe Pferde, die unter einem Felsvorsprung angebunden waren, dann hatte sie freie Sicht auf die Schlucht. *Der Drache, Elion!*, schrie sie. *Und Männer – sie verfolgen einen anderen Mann!*
Ein Dutzend Krieger jagten einen Unbewaffneten und schossen auf ihn, allem Anschein nach waren sie erfahrene Soldaten. Das sah ganz nach einem Hinterhalt oder nach einer Falle aus. Thirishri fing das Entsetzen und die Angst des Flüchtenden auf, und seinen erbitterten Zorn über eine solche Ungerechtigkeit. Die Bogenschützen schossen einen wahren Pfeilhagel auf ihn ab.
Thirishri fühlte sich hin und her gerissen. Dem Seher des Drachenvolkes sollte ihre vorderste Sorge gelten. Aber Aethon würde nicht weggehen, falls er tatsächlich noch lebte. Und es gehörte zum Wesen – und zur Pflicht – eines Wissenshüters, in ein solches Geschehen einzugreifen. Aber sie durfte andererseits diesen zurückgebliebenen, abergläubischen Einwohnern ihre Anwesenheit nicht enthüllen, noch durfte sie den Soldaten etwas antun, ohne zuvor die wahren Ursachen des Vorfalls aufzudecken. Denn schließlich konnte der Flüchtige ein entlaufener Mörder sein. Andererseits weigerte sie sich zuzulassen, dass ein unschuldiger Mensch getötet würde – und ihre Intuition sagte ihr, dass er unschuldig war.
Also gab es nur eins zu tun. Thirishri stieß hinab zwischen die Jäger und ihre Beute und hielt sich im Rücken des Flüchtenden. Sie presste die Luft hinter ihm zu einem Schild zusammen.
Nicht einen Moment zu früh. Ein Pfeil traf den Mann zwischen die Schulterblätter, nahm ihm den Atem und warf ihn zu Boden. Thirishri hatte verhindern können, dass der Pfeil ins Fleisch drang, aber es war ihr nicht gelungen, die ganze Wucht des Aufpralls abzufangen. Immerhin hatte man ihn deutlich hören können. Nun, dachte der Luftgeist, der arme Mann wird bis in alle Ewigkeit einen blauen Fleck haben, aber das Geräusch sollte die Verfolger genügend zum Narren halten.
Und jetzt – brauchte sie ein Ablenkungsmanöver oder etwas, um ihn vor seinen Feinden zu verbergen. Also, der Sturm würde ohnehin bald losbrechen … Thirishri langte in die schneebeladenen Wolken hinauf, und als würde sie einen Vorhang fallen lassen, zog sie den Schnee in wirbelnden Flocken in die Schlucht hinunter, sodass von dem Mann bald nichts mehr zu sehen war. Sie hörte die verwirrten Rufe seiner Verfolger und wie sie suchend umhertappten und fluchend aufeinander prallten. Leicht amüsiert spähte sie durch den dicht fallenden Schnee. Die Soldaten rannten und stolperten im Kreis, schafften es kaum zusammenzubleiben und ließen bald von der Verfolgung ab. Nur um sicherzugehen, rührte Thirishri einen kleinen Wirbelwind auf, mit dem sie ein paar Zweige aufhob und über dem niedergestreckten Mann fallen ließ. Er würde sich nach allem ein wenig benommen fühlen, aber nicht bewusstlos sein. Thirishri hoffte sehr, dass er genug Verstand besaß, still liegen zu bleiben, bis seine Verfolger sich davongemacht hatten.
Ein Schrei drang durch den pfeifenden Sturm. Thirishri fluchte und sauste zurück zu Aethon. Als sie seinen zuckenden Leib sah, schnappte sie vor Entsetzen nach Luft und verursachte dadurch einen Knall. Oh, Äolus, Vater aller Luftgeister! Was hat Aethon da getan? Der Mann neben ihm sank auf die Knie, griff sich an den Kopf und schrie aus vollem Halse: »Myrial! Myrial hilf mir – es ist in meinem Kopf!«
Bewusstseinsübertragung? Hatte der Seher in seiner Not das Unmögliche gewagt? Stürmisch versuchte Thirishri in ihn zu dringen. *Aethon? Aethon! Hörst du mich?*
Keine Antwort. Die telepathische Matrix enthielt keine Spur vom Dasein des Sehers.
Nein, dachte Thirishri, ich muss es mir eingebildet haben. Die ganze Vorstellung ist irrsinnig.
Bevor sie die Sache weiter untersuchen konnte, wurde der Mann von Soldaten umringt. Der Anführer schlug den Schreienden mit dem Heft seines Schwertes auf den Kopf, und das Schreien verstummte augenblicklich.
»Genug«, sagte er. »Offensichtlich haben die Belastungen der vergangenen Monate dem Hierarchen zu viel abverlangt. Zudem hat sich nun seine Hoffnung zerschlagen, Myrial hätte ihm diese Kreatur
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