Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Blick darauf werfen …« Der Satz verebbte nachdenklich, doch dann straffte Tormon seine Schultern und kehrte dem lockenden Portal den Rücken zu. »Aber wir dürfen es nicht wagen. Jetzt will ich kein Wort mehr darüber hören. Wir müssen die anderen abholen und uns auf den Weg machen.« Er wandte sich zum Gehen, doch Scall sah, wie er noch einmal über die Schulter nach der geheimnisvollen Öffnung spähte – mit enttäuschtem Gesicht.
Tormon würde nur zu gerne da hinaufsteigen, stattdessen denkt er an unsere Sicherheit. Vielleicht gehört viel mehr dazu, ein Anführer zu sein, als ich gedacht habe.
Gehorsam folgten sie dem Händler den Tunnel hinauf, und es verging kaum Zeit, ehe Scall herrliches Tageslicht im Tunnelausgang sehen konnte und das Donnern des Wasserfalls durch den Fels spürte. Nacheinander duckten sie sich hinter dem nassen Vorhang hervor und schenkten dem ohrenbetäubenden Getöse und der Gischt, die am Tag vorher so bedrohlich erschienen waren, als sie das Unbekannte noch vor sich hatten, keine Beachtung. Seitdem hatten sie Schlimmerem die Stirn geboten und waren noch am Leben.
Als Scall sah, dass sich die schmale Straße noch an Ort und Stelle befand und bis zum Klippenrand unbeschädigt geblieben war, hätten er weinen mögen vor Erleichterung. Die Kraft des Wassers hätte gut und gern ein Stück fortreißen können, dann hätten die anderen ohne sie dagestanden und sie selbst wären von den Pferden abgeschnitten gewesen. (Später erzählte ihm Tormon, dass er sich genau darüber Sorgen gemacht hatte, und Scall glühte vor Stolz, weil er wie ein erfahrener Händler gedacht hatte.)
Es tat gut, wieder im Freien zu sein, auch wenn ein kalter Wind blies. Der Tag war freundlicher und klarer als der vorige, obwohl der Himmel grau war, denn die Wolkendecke war viel höher und lichter. Von hier oben sah man den fernen Regen wie dunkle Flecke über den Himmel ziehen und auf das dunstige Tiefland niedergehen.
So schnell sie konnten stiegen die drei bergan, doch der Weg war noch immer schlüpfrig. Oben empfing sie der wunderbare Anblick des Wachhauses, das wie eine Felseninsel aus einem Meer von Unrat und Verwüstung ragte. Die unerwartete Rückkehr von Tormons Gruppe war ein großes Ereignis. Die Pferde wurden wild, als sie die Stimme ihres Herrn hörten. Sie wieherten und traten gegen die Stallwände und versuchten sich loszureißen. Mit einem Freudenschrei warf sich Annas aus ihrem oberen Bett und in die Arme ihres Vaters.
Rochalla, die gerade ein paar rauchende Scheite zum Brennen bewegen wollte, fuhr herum, und zu Scalls völliger Überraschung schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn herzhaft. Er wurde fürchterlich rot, und sein Gesicht brannte heißer als Kohlen im Kamin. Fast hätte er die ganze Sache verpatzt, weil er sich verlegen aus der Umarmung winden wollte, doch in einem Geistesblitz fiel ihm ein, dass er noch nie ein Mädchen geküsst hatte und dies ein ausgezeichneter Moment wäre, das zu üben. Und so erwiderte er den Kuss. Als sie sich losließen, war Rochallas Gesicht so rosig, wie sein eigenes sein musste. Er begegnete kurz ihrem Blick, dann sah sie schüchtern fort. Plötzlich wurde ihm deutlich bewusst, dass ihn jeder anstarrte. Ober ihre Schulter hinweg sah er Presvel in der Tür stehen. Seine Augen waren schmal vor Hass, und Mord stand groß auf seiner Stirn. Scall durchlief ein Schauder. Ihm war, als habe jemand angefangen, sein Grab zu schaufeln.
Presvel zitterten die Hände, während er die geretteten Kleider, Vorräte und Waffen in einen Rucksack stopfte. Dicht bei ihm packte auch Rochalla, und Annas half ihr dabei mit wechselndem Erfolg. Seit Tormon zurückgekommen war, schnatterte das glückliche Kind laut und fröhlich, ohne auch nur einmal, wie es schien, Atem schöpfen zu müssen. Ihre Stimme begann an seinen Nerven zu zerren.
»Du bist noch nie den Abgrund hinuntergefahren, nicht wahr, Rochalla? Aber ich. Wir fuhren immer mit dem Wagen, aber jetzt haben wir ihn nicht mehr. Ich mochte den Wagen. Ich hatte ein Bett und ein eigenes Kopfkissen und eine Flickendecke und alles, und ich hatte ein rotes Kleid und eine Puppe, die Lissy hieß, und ein Bilderbuch, und ich konnte mich hinten aus dem Wagen lehnen und Esmeralda füttern … ich mag Esmeralda, du auch, Rochalla? Sie hat so weiche, flauschige Ohren.«
Und so ging es immer weiter. Presvel knirschte mit den Zähnen. Wie konnte Rochalla das aushalten? Wie konnte sie so geduldig auf all diesen
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