Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
es hieß, in dieser feindlichen neuen Welt zu überleben, und dass es vielleicht bald viel Schwierigeres zu bewältigen gäbe, als zwei Pferde zu versorgen, weshalb sie sich eine ganze Palette neuer Fähigkeiten aneignen musste.
Während sie sich mit der unbarmherzigen Wirklichkeit abfand, rieb Tormon den Wallach fertig trocken. Zum Schluss gab er dem Tier einen Klaps und drehte sich zu Seriema um. Er nahm den Faden wieder auf, als hätte er nur einen Augenblick nachgedacht. »Außerdem«, sagte er bitter, »haben die beiden Sefrianer Kanella gehört, meiner Frau, und sie hat sie geliebt, als wären sie ihre Kinder.« Die unverhohlene Qual in seinem Gesicht stach Seriema ins Herz wie ein Dolch, der langsam gedreht wurde. Tormon setzte noch einmal zum Sprechen an, doch dann schüttelte er den Kopf und schleppte sich mit gebeugten Schultern aus dem Stall, als drückte ihn ein Last nieder.
Lange nach Mitternacht tastete oben im Gebirge eine schmutzige und blutige Hand über die Kante des Abgrunds. Mit einer letzten unmenschlichen Anstrengung zog sich Blank über den Rand und rollte sich, da ihm die Kraft zum Aufstehen fehlte, von der gefährlichen Stelle fort unter einen Busch. Dort blieb er liegen, während seine schmerzenden Muskeln sich verkrampften und zuckten und er am ganzen Leib vor Erschöpfung zitterte.
Kein anderer hätte das geschafft. Nur sein unbarmherziger Wille hatte ihn sicher nach oben gebracht. Ober Stunden war er Zoll für Zoll die Felswand hinaufgeklettert und hatte nicht gewagt, sich einen Moment lang dabei auszuruhen, den Griff zu lockern, mit den Gedanken abzuschweifen. Seine Stiefelspitzen war durchgeschabt vom dauernden Tasten nach einem Halt, der sein Gewicht zu tragen vermochte, während er mit einer Hand schon nach dem nächsten Spalt im Gestein suchte. Seine blutigen Fingerspitzen hatte er in tausend winzige Risse geschoben, seine Handflächen waren voller Blasen und aufgerissen.
Trotz der Erschöpfung brannte ein heißer Zorn in ihm. Er war es auch, der ihn zu jedem Kletterschritt angetrieben hatte. Während er sich an die Felsen schmiegte, war seine Wut der Ansporn, der ihn ans Ziel führte. Seine Beute war ihm entkommen. Sein Plan, Zavahl loszuwerden, war zunichte. Seine Soldaten hatten sich seinen Befehlen widersetzt, ihn verraten, ihn absichtlich dem Tod überlassen. Doch nun befand sich der ehemalige Hauptmann auf sicherem Grund und wusste, dass er ruhig zu überlegen hatte. Er musste die Wut beiseite schieben, denn sonst würde sie ihm den Verstand vernebeln. Allerdings brauchte es wenig Überlegung, um festzustellen, dass ihm nur drei Möglichkeiten blieben: Erstens könnte er dieses Land für immer verlassen und anderswo neu anfangen, aber das kam eigentlich nicht in Frage. Zweitens könnte er nach Tiarond zurückkehren und versuchen, die Zügel der Macht wieder in die Hand zu bekommen – doch das erschien wenig Erfolg versprechend, da seine Männer sich offen auflehnten und die überlebende Bevölkerung jetzt wie eine Schafherde im Tempel eingepfercht war. Drittens könnte er den Wissenshütern nach Gendival folgen.
Bei dem bloßen Gedanken durchlief ihn ein Zittern, eine seltsame Erregung, ein Gemisch aus Schmerz, Freude und Furcht. Er wollte das bezaubernde Tal der zwei Seen wiedersehen, das einst einem einsamen Wanderer Zuflucht gewährt hatte. Gendival, ein Ort voller Schönheit und Gefahr, der Ort der Erinnerung an Ehrgeiz und Versagen, Liebe und Verlust, der immer eine besondere Macht über sein Herz gehabt hatte. Blank lächelte verbissen.
Nach all diesen Jahren wird der Verbannte zurückkommen. Und wenn Cergorn mich in die Finger bekommt, wird er nur zu glücklich sein und mich zu der Hinrichtung willkommen heißen, die er so lange hat aufschieben müssen. Soviel steht fest.
So hatte er sich seine Rückkehr nicht vorgestellt. Er hatte an der Spitze eines Heeres in Gendival einfallen wollen, um dann mit der Schnelligkeit und tödlichen Unfehlbarkeit einer Schlange zuzuschlagen. Dabei war es nicht wichtig, wie viele Soldaten er im Rücken hätte. Das Entscheidende bei der Überwindung des Schattenbundes waren Schnelligkeit und Überraschung. Sobald Cergorn und die mächtigsten seiner Vertreter aus dem Weg geräumt wären, würde sich das Übrige einfach gestalten – so lautete seine ursprüngliche Strategie. Nun stand er allein da und hatte keine Machtbasis mehr. Er würde sich einen anderen Plan ausdenken müssen, und angesichts der neuen Verwicklungen sollte es
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