Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
ihre Familie, nach Bevron und Aukil, die sich dort oben schon eingerichtet hatten. Glücklicherweise war ihnen das Blutbad auf dem Tempelplatz erspart geblieben. Sie hatte sich geweigert, ihnen die Teilnahme an der Zeremonie zu erlauben, damit sie nicht sähen, wie sie Zavahls Opferung leitete. Und sie hatte ihre neue Macht schamlos benutzt, um die Abwesenheit der beiden zu entschuldigen, und hatte sie in die Wohnung des Hierarchen geschickt, wo sie aus dem Weg und in Sicherheit waren.
Vielleicht ist das Große Opfer darum solch ein Reinfall geworden, gab ihr eine heimtückische Stimme ein. Deine erste Amtshandlung, und du betrügst Myrial, indem du deine Familie bevorzugst. Und wenn nun die ganze Tragödie deine Schuld ist? Plötzlich wurde ihr kalt. Zum ersten Mal spürte sie die Last der Verantwortung, die ihren Vorgänger gequält hatte. Sein Gewissen hatte ihn ständig verfolgt. Hatte Zavahl etwa die ganze Zeit über Recht gehabt? Vielleicht war es wirklich besser, wenn ein Hierarch allein blieb oder von seinen Lieben getrennt lebte, damit die Familienbande nicht mit seinen göttlichen Pflichten in Widerstreit geraten konnten. Gilarra ballte die Fäuste.
Nein! Das darf nicht wahr sein! Ich kann beides haben, die Familie und Myrial. Ich kann die Verantwortung abwägen. Ich muss es tun.
Die Sehnsucht nach ihrer Familie wurde plötzlich übermächtig.
Vielleicht kann ich zu Bevron hinaufgehen. Nur für eine kurze Weile. Sicher werde ich die Lage besser meistern, wenn ich ausgeruht bin.
Myrial wusste, wie sehr sie den Aufschub brauchte. Und außerdem würde das Volk mehr Vertrauen in sie haben, wenn sie tatsächlich wie ein Hierarch aussah. Die kostbare Amtsrobe war zerrissen und zerknautscht und voller Flecke. Sie spürte das angetrocknete Blut im Gesicht, das von der Kopfwunde herrührte. Die Plattform war unter ihr eingebrochen, wobei sie von einem der Trümmer getroffen wurde. Der Schnitt auf der Stirn brannte heftig, und von dem Schlag quälten sie Kopfschmerzen. Gilarra schlüpfte in den dunklen Gang, der zu ihrer Wohnung führte, und eilte auf die Treppe zu.
Ich will nur für ein paar Augenblicke hinauf, um mich zu fassen. Das bedeutet schließlich nicht, dass ich davonlaufe. Ich werde sofort wieder zurück sein. Nur ein Weilchen …
»Nein, verehrte Dame.« Leutnant Galveron stand am Fuß der Treppe.
Gilarra merkte, wie sie errötete. »Ich wollte mich nur umziehen gehen. Wie kann ich zu den Leuten reden, wenn ich so zugerichtet aussehe?«
»Verzeih mir meine Offenheit, verehrte Hierarchin«, entgegnete der Leutnant, »aber genau so solltest du jetzt vor sie treten. Ich kenne diese Menschen. Es wäre ein großer Fehler, wenn du dich ordentlich und sauber in kostbarer, warmer Kleidung vor sie hinstellst. Wenn sie dich aber so sehen: verwundet, schmutzig und zerzaust, dann werden sie wissen, dass du eine der ihren bist. Sie werden sehen, dass du ihre Leiden teilst und dennoch gewillt bist, dem Unglück zu widerstehen und mit aller Tapferkeit zu kämpfen, der du fähig bist. Für das Volk ist das wichtig, verehrte Hierarchin. Man wird dir umso mehr Achtung entgegenbringen, das versichere ich dir.«
»Aber was kann ich ihnen sagen? Was könnte ihnen in dieser Not überhaupt helfen?«
»Das wirst du wissen, wenn es so weit ist, dessen bin ich mir sicher. Du besitzt großes Mitgefühl, Dame Gilarra, und das ist es, was die Menschen jetzt brauchen. Dein Herz wird dir eingeben, was du zu sagen hast und wie sie am besten zu beruhigen sind. Wenn sie erst einmal wissen, dass sie wieder ein Oberhaupt haben, das die Verantwortung für ihr Wohlergehen übernimmt, dann werden sie viel zufriedener sein.« Und mit traurigem Gesicht fügte er hinzu: »Das wird uns eine Frist verschaffen, um von dem Berg an Schwierigkeiten, vor dem wir stehen, etwas abzutragen.«
Gilarra betrachtete seine blutige Kleidung, die dunklen Ringe unter seinen Augen, die Biss- und Kratzwunden. Sie war beeindruckt, mit welcher Schnelligkeit dieser junge Mann sich vom Rand des Abgrunds zurückgerissen hatte, bereits Überlegungen anstellte und Entscheidungen für die Zukunft traf. Sie wusste, dass er hinsichtlich ihrer Verantwortung die Wahrheit sprach. Ernsthaft ermahnte sie sich, dass viele andere Familien nicht das Glück gehabt hatten, ihre Lieben anderswo in Sicherheit zu bringen. Wenn sie also nicht bald handelte, würde der Kummer der Menschen in Verzweiflung umschlagen und unausweichlich Gewalt hervorbringen. Gilarra seufzte. »Du
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