Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
dass sie den blutigen Ansturm überlebt hatten.
Soweit Agella sehen konnte, waren sie und ihre Nichte Felyss die einzigen Überlebenden der Familie. Abgesehen von Felyss’ Bruder, ihrem bisherigen Lehrjungen, so hoffte sie.
Myrial sei Dank, dass ich ihn in die Berge geschickt habe, bevor die Katastrophe losging. Wenn er nur wohlbehalten bei Toulac angekommen ist, dann ist alles gut. Meine alte Freundin wird gut für ihn sorgen. Keiner weiß eine Krise besser zu meistern als sie. Ich muss mich jetzt um Felyss kümmern. Sie hat sonst niemanden mehr, die arme Seele.
Agella erinnerte sich mit Grauen, wie ihre Schwester und ihr Schwager zerrissen wurden. Und wenn Galveron nicht gewesen wäre, dann lägen jetzt auch sie und Felyss zwischen den Toten. Ihm hatten sie ihr Leben zu verdanken.
Agella hatte schon immer eine hohe Meinung von dem jungen Leutnant gehabt, aber mit dem heutigen Tag hielt sie noch mehr von ihm. Er hatte während des Angriffs nicht den Kopf verloren, war bis zum letzten Augenblick draußen geblieben und hatte furchtlos und grimmig das Rückzugsgefecht bestritten, um möglichst viele Tiarondianer zu retten. Sie und Felyss waren die allerletzten gewesen, die es in den Tempel geschafft hatten, dank Galveron, der sie bis zum bitteren Ende beschützte. Anschließend ließ er sogar die neue Hierarchin warten und nahm sich die Zeit, eine stille Ecke für sie zu suchen, eine Nische, die wegen ihrer Nähe zum Portal frei geblieben war. Tatsächlich wegen allzu großer Nähe, fand Agella, doch die Halle war so sehr mit Menschen vollgestopft, dass es unmöglich war, weiter vorzudringen. Andererseits konnten sie hier nicht unter die Füße einer alles niederwalzenden Menge geraten.
Galveron wehrte Agellas Dank mit der ihm eigenen Bescheidenheit ab, während sein Blick zu Felyss wanderte, die sich geschwächt an die Wand lehnte und die Augen schloss. Sie war leichenblass, und ihr Haar, das den gleichen Kupferton hatte wie Agellas, war blutbesudelt, ebenso Gesicht und Kleid. Galveron runzelte plötzlich die Stirn. »Ist sie nicht das Mädchen, das …«
Agella unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Sie wusste, dass er eingeschritten war, als die Handlanger der Dame Seriema vor Felyss’ Elternhaus über ihre Nichte herfielen und sie schändeten. Um ihre Schroffheit abzumildern, lächelte sie ihn an und sagte: »Ja, das ist Felyss, und ich hoffe, es wird nicht zur Gewohnheit werden, dass du zu ihrer Rettung herbeieilst.«
»Das hoffe auch ich«, antwortete er. Dann sprach er Felyss an, obwohl sie scheinbar nicht darauf achtete, was um sie herum geschah. »Im Augenblick scheint alles unvorstellbar schlimm zu sein, aber wenn du deiner Tante nur ein bisschen ähnlich bist, dann braucht es viel mehr, um dir den Lebensmut zu nehmen. Bleibe nur tapfer und halte an deiner Würde und Hoffnung fest, und du wirst damit fertig werden. Wie wir alle.«
Felyss schlug die Augen auf und funkelte den Leutnant zornig an. »Würde und Hoffnung!«, fauchte sie. »Du Narr! Woher soll ich die nehmen? Seriemas Männer haben sie mir entrissen. Lasst uns tapfer sein und zusammenstehen und alles wird gut werden, ja? Weißt du eigentlich, was du da sagst? Hast du die Leichen und die Blutlachen da draußen nicht gesehen? Alles wird gut – dass ich nicht lache! Verschwinde und behalte dieses Ammengewäsch für dich!«
»Felyss!«, rief Agella entrüstet.
Galveron schmunzelte. »Siehst du? Dein Kampfgeist ist bereits zurückgekehrt, und das ist immer der schwerste Schritt. Die Würde und die Hoffnung werden schon noch kommen, wie alles andere auch.« Er nickte Agella zu. »Ich muss jetzt gehen. Die Hierarchin wird mich brauchen. Wir haben vieles zu bewältigen.«
»Wenn ich helfen kann, gib mir Bescheid.« Agella nahm ihn beiseite und musterte ihn mit leichtem Stirnrunzeln. »Du solltest wirklich trotz allem zuerst die Biss- und Kratzwunden versorgen. Manche sehen böse aus.«
»Alles zu seiner Zeit. Du und Felyss gebt jetzt aufeinander Acht.« Damit hatte er sie allein gelassen.
Gilarra war überwältigt. Nun, da sie die Herrschaft übernommen hatte, war es ihre Pflicht, zu handeln. Aber was konnte sie tun, um solches Leid, solchen Schrecken zu lindern? Ihr selbst schwindelte noch von dem furchtbaren Geschehen, und sie wünschte nichts sehnlicher, als sich die Ohren zuzuhalten und in die Gemächer des Hierarchen zu laufen, die sich über dem Tempel befanden, weit weg von dem Höllenlärm. Sie sehnte sich nach dem Trost durch
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