Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
hast Recht«, erwiderte sie, »ich komme sofort.«
Während sie die Wendeltreppe zur Kanzel hinaufstieg, zitterte sie so heftig, dass sie sich auf das Geländer stützen musste. Ihre Knie wollten jeden Augenblick nachgeben. Als sie oben ankam und über die Menschenmenge blickte, verließ sie der Mut. Sobald sie zu sprechen anfinge, würden sich viele Hundert Augenpaare auf sie richten, und jedes Räuspern würde von der Kanzel aus bis in den hintersten Winkel der Halle deutlich zu hören sein. Darin hatten die Erbauer des Tempels großes Geschick bewiesen.
Was soll ich sagen? Wie soll ich die rechten Worte finden? O Myrial, wie kann ich ihnen helfen?
Dein Herz wird es dir eingeben, hatte der Leutnant gesagt. Er hatte gut reden, da er unbehelligt dort unten stehen durfte und nichts zu sagen brauchte. Als sie zu ihm hinuntersah, nickte er ihr ermutigend zu. Gilarra konnte es nicht weiter aufschieben und straffte die Schultern. Sie hoffte einfach, dass sich die richtigen Worte von selbst einstellen würden, und begann:
»Mein Volk, meine geliebten Freunde. Hört mich an! Ihr seid hier in Sicherheit.« Sie hielt inne, um sie diese Wahrheit begreifen zu lassen. »Ihr seid nun außer Gefahr.« Inzwischen war es in der Basilika still geworden. Die Gesichter hatten sich der neuen Hierarchin zugewandt, wie Blüten sich zur Sonne wenden.
»Ich gelobe, dass hier im Hause Myrials Seine Kinder Schutz und Beistand haben sollen, während wir das Unheil, das uns heimgesucht hat, wieder abwenden.« Gilarra sah die Tränen in den Augen ihrer Untertanen. Da waren viele, die es zu ernähren und zu schützen galt, und doch so wenige. Von dieser großen, einst blühenden Stadt waren nicht einmal zweitausend Menschen am Leben geblieben. Sie stockte.
»Ihr seid jetzt zornig, voller Trauer, entsetzt und verängstigt. Fast jeder hat einen geliebten Menschen und teure Freunde verloren. Es ist daher nur allzu verständlich, dass ihr sie unter den Überlebenden suchen wollt. Aber fürs Erste bitte ich euch, zu bleiben, wo ihr gerade seid. Unsere erste Sorge muss den Verwundeten gelten. Ich fordere alle Heiler, alle Arzneikundigen, Hebammen und Kräutersammler auf – jeden, der über Erfahrung beim Heilen verfügt –, sich in der Silbernen Kapelle am Ende des östlichen Seitenschiffs einzufinden. Sobald sie sich untereinander besprochen haben, werden sie durch die Reihen gehen und jeden behandeln, der ihre Hilfe braucht. Die schwer Verletzten wird man in die Wohnungen der Priester und Priesterinnen bringen.«
Gilarra holte tief Luft und beugte sich den Flüchtlingen entgegen. »Dank unserer weisen Voraussicht stehen im Heiligen Bezirk für solche Notfälle Lebensmittelvorräte bereit, und davon werden Rationen verteilt werden, sobald wir sie sinnvoll eingeteilt haben. Ferner werde ich die Priester und Priesterinnen vom Skriptorium zu euch schicken, damit sie eure Namen aufschreiben. Auf diese Weise sollen die Familien und Freunde zusammengeführt werden, ohne dass ihr endlos in der Menge suchen müsst.«
Sie spürte schon, wie sich die Stimmung änderte. Verunsicherung und Angst legten sich, und die Menschen sahen vertrauensvoll zu ihr auf, sie schöpfen neue Hoffnung.
Lieber Myrial, so viele verzweifelte Menschen hängen nun von mir ab. Bitte lass mich nicht versagen.
»Wie ihr seht«, fuhr sie mit fester Stimme fort, »gibt es vieles zu bewältigen und zu beschaffen: Wir müssen die Wunden behandeln, das Essen verteilen, Lager herrichten, Wasser herbeiholen, Notdurftstellen einrichten. Das kann nicht alles zur gleichen Zeit geschehen. Daher bitte ich euch um Geduld und Nachsicht.« Sie blickte forschend über die vielen Gesichter. »Ich brauche eine Gruppe freiwilliger Helfer. Gewiss wird niemand gern seine Familie wieder allein lassen wollen, aber falls doch jemand helfen möchte oder wenn jemand besondere Fertigkeiten besitzt, die in dieser Notlage nützlich sein können, so soll er sich in der Blauen Kapelle bei Hauptmann Galveron melden.«
Gilarra streckte die Arme aus und gab ihnen den Segen. »Ich werde euch nun nicht mit rituellen Gebeten aufhalten, meine Kinder, denn wir müssen uns so schnell wie möglich den Verwundeten zuwenden. Aber meine Liebe begleitet euch alle, und ich will unaufhörlich für unsere Zukunft beten. Mögen uns die nächsten Stunden Trost und neue Hoffnung bringen.« Damit drehte sie sich um und stieg von der Kanzel.
Einen Augenblick lang dehnte sich die Stille, dann rief eine einzelne Stimme: »Lang
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