Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
lebe unsere Hierarchin!«
Dann brach der Beifall los, und Gilarra konnte die Erleichterung heraushören.
Galveron hat Recht behalten. Sie brauchten jemanden, der die Last auf seine Schultern nimmt. Aber Myrial steh mir bei, wenn ich sie enttäusche wie Zavahl. Sie würden mich in Stücke reißen.
Da die neue Hierarchin nun kein tapferes und zuversichtliches Gesicht mehr zu zeigen brauchte, wurde ihr schwindlig vor Erleichterung. Mit zitternden Knien und wankend schaffte sie die letzten Stufen, wo zwei starke Arme sie auffingen. Galveron richtete sie auf und schaute stirnrunzelnd auf sie herab. »Hauptmann Galveron?«, zischte er. »Bei allem, was heilig, ist, warum hast du mir vorher nicht gesagt, welche Ehre und Verantwortung du auf mein Haupt laden willst?«
Gilarra rückte ein Stück von ihm ab, und stand so groß und gerade da, wie sie es von Natur aus vermochte. »Wenn die Entscheidung vor meiner Rede gefallen wäre, hätte ich sie dir sehr wohl mitgeteilt. Aber den Beschluss habe ich soeben erst gefasst, während ich dort oben stand.« Nun fiel ihr auf, wie bleich er aussah. Er musste ganz erschrocken sein. Ihr selbst waren ihre Pflichten so ungewohnt, dass sie dem verblüfften jungen Mann durchaus Mitgefühl entgegenbringen konnte. Dennoch beabsichtigte sie nicht, in dieser Sache nachzugeben. Dafür brauchte sie ihn zu dringend.
Die Hierarchin trat wieder einen Schritt auf ihn zu. »Galveron, ich weiß, welch enorme Last ich dir auferlege, aber ich habe keine andere Wahl. Blank ist nicht mehr da, und selbst wenn er zurückkehrt: Ich traue ihm nicht. Er verfolgt seine eigenen Zwecke, und ich brauche jemanden, bei dem ich mich darauf verlassen kann, dass er meine verfolgt. Unter uns gesagt bin ich froh, dass er sich rechtzeitig entschlossen hat, zu gehen. Falls er wiederkommt, wird er zu verhaften sein, wegen Verrats und weil er in einer Notlage seinen Posten verlassen hat. Hast du mich verstanden?«
Der neue Hauptmann sah sie erstaunt an, dann schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Bei Myrial! Das ist klug ausgedacht, verehrte Hierarchin, nicht wahr?«
Gilarra zog eine Grimasse. »Ich will es hoffen. Jeder andere, der in einer empfindlichen Krise an der Spitze steht, hätte das ebenso klug ausgedacht, wie du dich ausdrückst. Ich fange an, Zavahl ein bisschen besser zu verstehen. Jetzt, da es zu spät ist. Ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass ich über einem Abgrund hänge und dass es nie genug sein wird, was ich tue. Aber der Mantel des Hierarchen ist mir um die Schultern gelegt worden, und ich werde mein Bestes tun müssen.«
»Du machst deine Sache gut. Viel besser, als Zavahl es getan hätte. Während des vergangenen Jahres haben wir alle zusehen können, wie er immer schwächer wurde.«
Gilarra nickte. »Myrial steh ihm bei. Zavahl war ein sehr getriebener Mann. Ich frage mich, was nun aus ihm wird.« Sie schauderte und zog sich den Mantel zurecht. »Galveron, was kann das gewesen sein – dieses Drachenwesen, das ihn mitgenommen hat? Etwa das Tier, das die Händlerfamilie in den Bergen gefunden hat?«
»Ich weiß nicht, was es sonst gewesen sein könnte, es sei denn, eine ganze Horde Drachen wäre in Callisiora eingefallen, etwa wie diese geflügelten Scheusale«, antwortete Galveron, dann schloss er düster: »Doch ich will dir eins gestehen, verehrte Hierarchin. Ich würde lieber den Drachen fangen wollen, als Blank festzunehmen, wenn er zurückkehrt.«
»Falls er versucht, in die Stadt zu kommen, werden uns unsere geflügelten Feinde diese Sorge abnehmen. Doch davon abgesehen haben wir dringendere Aufgaben zu erfüllen.« Gilarra rieb sich die Augen. Ihr brummte der Kopf vor Müdigkeit. Sie fühlte sich entmutigt von den vielen Pflichten, denen sie gerecht zu werden hatte.
Galveron nickte. »Das ist wahr, und ich glaube, wir sollten anfangen. Wenigstens eines ist bereits glücklich geschafft: Wir sind im Tempel sicher und haben ein Dach über dem Kopf.«
Galveron irrte sich. Außerhalb des Heiligen Bezirks in der Nähe der Esplanade befand sich die Villa eines Wollhändlers. Im Waschhaus bewegte sich etwas. Ein Mädchen hatte dort Schutz gesucht und ängstlich hinter dem Kupferkessel gekauert, solange der dunkle Schatten des Scheusals hinter dem kleinen seifenverschmierten Fenster vorbeihuschte. Schließlich kam sie hervor. Aliana kribbelten die Beine, die vom langen Hocken in der Nische taub geworden waren. Sie rieb sie hastig, wollte zu schnell aufstehen und taumelte
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