Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
wie eine Betrunkene aus dem Versteck. Dabei stieß sie im Dunkeln gegen den Griff der Wäschemangel.
»Aua!« Aliana versetzte der Wäschemangel einen Stoß und rieb sich die schmerzende Stelle an der Hüfte. Noch ein blauer Fleck in dem bereits farbenfrohen Aufgebot. Na schön, das gehörte zum Tagewerk eine Diebin dazu – allerdings wurde ihr Handwerk an diesem besonderen Tag ganz unerwartet um neue Möglichkeiten und Gefahren erweitert.
Anfänglich war ihr der Plan unfehlbar erschienen. Die Bande brauchte nur zu warten, bis jedermann wegen des Großen Opfers zum Tempel hinaufgegangen war, dann wäre die ganze Stadt zur Eroberung reif gewesen, sie hätte praktisch ihnen gehört. Keiner wäre mehr da gewesen, um einen Dieb aufzuhalten. Sogar diese verflixten Gottesschwerter sollten bis zum letzten verdammten Mann an der Zeremonie teilnehmen. Was konnte also schon schief gehen?
Die Antwort auf diese Frage war in Gestalt eines finsteren Schwarms aus dem wolkenverhangenen Himmel gekommen und war viel schrecklicher gewesen als alles, was ein Dieb gewöhnlich fürchtete. Aliana hatte von ihrer ursprünglichen Absicht, das Haus der reichsten Handelsfrau der Stadt auszurauben, schon lassen müssen, weil dort irgendein Tumult zu hören war, und so war sie hinter den Villen entlanggeschlichen und hatte sich überlegt, welches sie stattdessen plündern sollte. Ein Schatten war über ihrem Kopf hinweggeflogen, den sie nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Aber sie hatte genug gesehen, um hastig in Deckung zu gehen. Seitdem hatte sie sich im Waschhaus versteckt, wo ihr die Seife in der Nase kitzelte, während sie zitternd auf die Schreie horchte, die vom nahen Tempelplatz kamen. Von Zeit zu Zeit hatte sie durch die schmutzige Scheibe die Umrisse der großen Vögel gesehen, die in Scharen am Himmel flogen.
Ihr erster Gedanke war es gewesen, abzuhauen, um das nackte Leben zu rennen und in das sichere Hauptquartier der Bande zurückzukehren. Aber einen Augenblick später war sie zur Vernunft gekommen. Dorthin zu rennen, solange es noch hell war und diese Ungeheuer wie die Geier in der Luft kreisten, wäre der reinste Irrsinn. Sie würde nur zur Beute werden. Nein, es wäre besser, die Dunkelheit abzuwarten, dann würde sie mehr Deckung haben und sich von Haus zu Haus durchschlagen können, bis sie daheim wäre.
Dort kann mir nichts mehr passieren, und auch den anderen nicht, sofern sie es bis dahin schaffen. Diese Ungeheuer können uns im Labyrinth nicht aufspüren. Wir brauchen nur nach Hause zu gelangen.
Während der folgenden Stunden hatte sie versucht, sich an dieser Überzeugung festzuhalten, doch ihre Angst war ständig größer geworden. Sie fürchtete nicht nur um sich selbst, sondern auch um die Bande, und besonders um ihren Zwillingsbruder Alestan. Hatte er rechtzeitig Unterschlupf gefunden wie sie? Oder hatte sie unter den qualvollen Schreien auch seine gehört? Lag er nun irgendwo tot, misshandelt, zerfleischt, angefressen? Würde sie ihn je wiedersehen?
Da es inzwischen dunkel geworden war, könnte sie es herausfinden. Sie würde ihr Versteck verlassen und sich hinauswagen müssen. Die schrecklichen Schreie waren verstummt, es herrschte eine unheimliche Stille. Diese Ungeheuer mussten tödliche Gegner sein, doch Aliana vertraute auf ihre besondere Gabe, sich ungesehen und flink durch die Stadt zu bewegen. War sie nicht ein Grauer Geist? Und einer der besten? Sie war stolz auf ihre Bande. Sie und Alestan hatten sie gegründet, indem sie die besten Diebe der Stadt zusammengeführt und davon überzeugten hatten, zum Nutzen aller zusammenzuarbeiten – was bei weitem der schwierigste Teil des Unternehmens gewesen war. Und sie hatten sie dazu gebracht, ihren hohen Anforderungen gerecht zu werden.
Die Grauen Geister hatten sich unbemerkt durch die Stadt zu schleichen, durften mit keiner Spur ihre Anwesenheit verraten und niemals gesehen oder gar geschnappt werden. Jedes Mitglied, das gefasst wurde, würde für immer aus der Bande ausgeschlossen werden und der sichere Unterschlupf des Höhlenlabyrinths im östlichen Ausläufer des Chaikar würde ihm verwehrt bleiben. Seit undenklicher Zeit waren diese Höhlen die letzte Zuflucht für die Vergessenen der Stadt gewesen: die Obdachlosen, die Menschen ohne Hoffnung, die Besitzlosen und Verbrecher. Das so genannte anständige Volk mied diesen Ort, und selbst die Gottesschwerter zogen es vor, so zu tun, als gäbe es das Labyrinth nicht, und keiner von ihnen wagte
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