Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Geschichte bestätigen, und vielleicht fand sich mit der Zeit eine Verwendung dafür. Er setzte seinen Soldatenrucksack ab und griff nach dem Spiegel. Sogleich bildeten sich die Muster von neuem. »Ach, hör schon auf damit«, murmelte er, warf ihn in den Rucksack und band ihn zu. So war es mit allen Dingen in dieser seltsamen Höhle: schön waren sie, aber unbegreiflich und, soweit Scall sehen konnte, völlig nutzlos. Ein wenig enttäuscht wandte er sich zum Gehen. Er hatte genug von diesem Ort. Wenn es ihm gelänge, an der Überschwemmung vorbeizukommen, dann würde er in die Welt zurückkehren, die er kannte. Und es wurde auch Zeit.
Er verließ die Mulde, indem er den steilen Rand mit Schwung hinauflief. Als er wieder oben auf dem Boden der Höhle stand, sah er noch einmal zurück – und stieß einen leisen Pfiff aus. Die Blase hatte sich neu gebildet, befand sich an Ort und Stelle wie zuvor. Scall starrte sie verwundert an, während ihm die Wahrheit dämmerte. Sie musste die ganze Zeit über dort gewesen sein, doch solange er in ihrem Innern gewesen war, hatte sie nicht sehen können. Sie war nur von außen sichtbar, wo sie jene Gegenstände verbarg, die er so sorglos stibitzt hatte. Einen Augenblick lang glühten seine Wangen vor Schuldbewusstsein, dann runzelte er ärgerlich die Stirn. »Ach, Mist! Ich bringe sie jetzt nicht wieder zurück. Hier ist sowieso niemand.« Damit drehte er dem Kreis den Rücken zu und machte sich entschlossen auf den Weg.
Bis er endlich, durch häufiges Probieren und ausgiebiges Suchen, den Ausgang gefunden hatte, fühlte er sich elend und erschöpft. Benommen stolperte er durch den Röhrengang, doch als er bei der Leiter ankam, die nach unten in den gewöhnlichen Tunnel führte, konnte er nicht mehr weiterlaufen. Er setzte den Rucksack ab, legte ihn sich als Kissen zurecht und rollte sich auf dem warmen, schwammigen Boden ein. Beim Einschlafen durchflutete ihn ein dunkles Gefühl der Erleichterung, dass er, wenigstens für eine Weile, seine Sorgen vergessen durfte.
Im belagerten Tiarond wünschte sich Kaita, dass sie ihren Sorgen so leicht entkommen könnte. Schlaf war jedoch ein Luxus, den sie sich nicht erlauben durfte. Es gab einfach zu viel zu tun. Sie war entsetzt gewesen, als sie entdecken musste, dass sie unter den Überlebenden in der Basilika die Älteste unter den Heilern war. Auf diese Verantwortung hätte sie gut verzichten können. Seit dem grauenvollen Tod ihrer Freundin Evelinden vor zwei Tagen war es ihr ohnehin sehr schwer gefallen, sich aufrecht zu halten, und sie schaffte es nur von einer Stunde zur nächsten. Da brauchte sie nicht auch noch eine Schar von fremden Leuten, die zutiefst erschüttert und verwundet waren, wenngleich sich deren Trauer nicht von ihrer unterschied und deren Verlust ihrem gleichkam.
Wieder und wieder wurde sie von der Erinnerung überwältigt. Gestern vor Morgengrauen hatte man sie zum Haus der Heilung gebracht, damit sie die Kleiderfetzen und Körperteile einer schrecklich zugerichteten Leiche erkenne, die ein bleicher Wachsoldat im Heiligen Bezirk entdeckt hatte. Hinterher, als Schmerz und Entsetzen unerträglich waren, nahm sie das Angebot der Kolleginnen an, bei ihnen zu bleiben, anstatt in der leere Haus zurückzukehren, das sie mit ihrer Freundin geteilt hatte. Auch den bitteren Schlaftrunk nahm sie bereitwillig. Als Heilerin wusste sie, was ihre Freundin gelitten hatte, und der Gedanke daran war nicht zu ertragen. Sie hätte alles getan, um der Vorstellung dieser Qualen zu entkommen, die Bilder der toten Evi auszulöschen. Und alles, um sich vor der Zukunft zu drücken, wenigstens für eine Weile.
Man hatte sie rechtzeitig geweckt, damit sie an der Opferung teilnehmen konnte. Unter gewöhnlichen Umständen wäre sie wütend gewesen, weil man sogar die armen Kranken aus dem Haus der Heilung dem feuchtkalten Wetter ausgesetzt hatte, um sie bei einem sinnlosen Ritual zusehen zu lassen – als ob die Verbrennung dieses nutzlosen Narren von einem Hierarchen an Callisioras Notlage auch nur das Geringste ändern würde! Die Ironie, dass gerade Zavahl als der höchste Befürworter dieser Religion von eben jener getötet wurde, war an Kaita nicht verschwendet. Sie selbst hatte vor langer Zeit aufgehört, an Myrial zu glauben, aber auch wenn nicht, so hätte das grausige Schicksal von Evelinden, einer Frau, die ihr Leben lang nur Gutes getan hatte, ihren Glauben zerstört. Betäubt von dem Verlust hatte sie demütig den weißen
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