Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
herumzutragen wie ein Bündel, und lässt ihn endlich versorgen.«
»Wie kannst du es wagen!«, fuhr Bevron sie an.
Ach, geh bitte weg, flehte Kaita innerlich. Ich verstehe sehr gut, warum ihr das tut, und ich fühle mit euch, aber lasst mich in Ruhe.
Galveron kam zu ihrer Rettung. »Verehrte Hierarchin, ich weiß, dass du solches nicht sagen würdest, wenn du nicht vor Angst außer dir wärst«, sagte er sanft. »Und ich weiß, dass du nicht über Dawels Leben verfügen willst. Heilerin Kaita wird zu dir kommen, sobald sie irgend kann. Sie wird dich nicht im Stich lassen.«
Die Rüge war feinsinnig erteilt, aber eindeutig, und sie verfehlte nicht ihr Ziel. Aus den Augenwinkeln sah Kaita, wie Gilarra sich abwandte, und hörte sie unterdrückt schluchzen. Sie fühlte mit der verstörten Frau und bedauerte, dass sie sich hatte hinreißen lassen, die Geduld zu verlieren. Mit lauter Stimme rief sie durch den Wachraum: »Ameris, bitte kümmere dich sofort um die Hierarchin. Ich werde auch gleich dazukommen.«
Dann sah sie flüchtig auf. Galveron saß geduldig da, hielt die bleiche, schlaffe Hand seines Freundes fest, während er sich das Tuch vor die Stirn drückte. Er nickte ihr zu. »Danke«, sagte er leise.
»Auch ich danke«, antwortete sie.
Schließlich war sie fertig. Zitternd vor Erschöpfung wusch sie sich das Blut von den Händen. Dawel lebte, allen Widrigkeiten zum Trotz, und wurde auf ein Bett der Wachen gelegt. Galveron setzte sich zu ihm, nahm wieder seine Hand. Kaita sah ihn die Lippen bewegen und nahm an, dass er betete. Doch als sie näher trat, merkte sie, dass er zu dem Bewusstlosen sprach, ihm erzählte, wie der Kampf verlaufen war, wie gut man ihn zusammengeflickt habe, und dass er bald wieder auf den Beinen sein werde. Galveron sah sie mit einem Mal schuldbewusst an. »Ist es überhaupt gut, wenn ich mit ihm rede?«, fragte er. »Oder sollte ich ihm seine Ruhe lassen?«
»Ich würde sagen, du tust genau das Richtige«, antwortete sie. »Er braucht jeden Grund, um am Leben festzuhalten.«
Galveron wandte den Blick ab. »Du hast wohl nicht viel Hoffnung, nein?«
»Nein«, sagte Kaita ehrlich. »Andererseits werde ich ihn nicht kampflos aufgeben. Und jetzt lass mich dein Gesicht anschauen.«
»Noch nicht«, bat Galveron. »Geh und untersuche zuerst den Jungen. Wir haben beide versprochen, dass du es tun wirst.«
Es stellte sich jedoch heraus, dass Ameris hervorragend allein zurecht kam. »Er wird wieder gesund«, versicherte sie Kaita. »Es fühlt sich nicht an, als sei der Schädel gebrochen. Aber er wird ein paar Tage lang die allerschlimmsten Kopfschmerzen haben. Er war bis vor einer Weile bewusstlos und schläft jetzt ganz normal.«
»Der Vorsehung sei Dank dafür.« Ihre Entscheidung, bei Dawel zu bleiben, war richtig gewesen. Und die Mutter des Jungen würde das jetzt sicherlich einsehen. Aber als sie auf die Hierarchin zuging, sprach diese kein Wort, sondern sah sie nur kalt an und ging dann hinaus.
Sie hoffte, die Angelegenheit würde verblassen, sobald das Kind wieder herumtollte, kehrte zu Galveron zurück und versuchte entschlossen, die Verstimmung fortzuschieben. »Nun lass mich dein Gesicht sehen«, verlangte sie fest. »Wenn du dein gutes Aussehen behalten willst, darfst du es nicht länger aufschieben.«
Als die Wissenshüter und ihre Mitreisenden endlich heimkehrten, war das Tal der zwei Seen in den zarten Schimmer der frühen Morgensonne getaucht. Die Hügellandschaft um Gendival war längst nicht so hoch wie die Berge in Callisioras Norden, und das Klima bisher noch nicht so gestört wie dort. Deshalb bekamen die Bäume soeben erst ihr herbstliches Gelb und Rot, das sich unter den schrägen Sonnenstrahlen zu Gold und Bronze färbte. Der Himmel strahlte in kühlem, blassen Aquamarinblau, und die Morgenluft war frisch und hatte schon den Biss herbstlicher Kälte an sich. Rauch, Moschuspflanzen und allerlei Gewürze schwangen in den Gerüchen der Landschaft mit, die so ganz anders als die saftigen Gras- und Blumendüfte des Sommers waren. Überall sah man Vögel, die die Gaben des Herbstes, die Beeren, Samen und Nüsse, nach Kräften nutzten, bevor die magere Winterzeit anbrach.
Toulac, die hinter Veldan auf dem Feuerdrachen saß, reckte sich ausgiebig und berauschte sich an der frischen, würzigen Luft. Endlich wieder die Sonne im Gesicht zu spüren! Sie fühlte sich wie zwanzig, stark und lebendig und voller Hoffnung. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie sehr
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