Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
hauptsächlich Handwerker wohnten, Menschen zumeist, die den Schattenbund durch ihre Arbeit versorgten. Als die kleine Gruppe über die einzige Straße darauf zuritt, hielten die Leute bei ihrer Beschäftigung inne, winkten und riefen fröhlich zur Begrüßung. Toulac, die immer unruhiger geworden war, je näher sie ihrem Ziel kamen, sah die lächelnden Gesichter, und ihr wurde heiter und behaglich zumute.
»So ist’s besser«, mischte sich Kaz in ihre Gedanken. »Du brauchst über nichts beunruhigt zu sein, weißt du. Du gehörst hierher, und ich und Veldan werden dafür sorgen, dass auch der alte Pferdearsch das begreift.«
Veldan musste zugehört haben. Sie verzichtete zwar auf eine Bemerkung, warf dem Feuerdrachen aber einen wütenden Blick zu, weil er den respektlosen Spitznamen so dicht bei der Siedlung gebraucht hatte.
Auch Toulac sah ihn finster an, denn sie ärgerte sich, weil er ihre gespielte Tapferkeit so mühelos durchschaut hatte. »Wie kommst du darauf, dass ich beunruhigt bin?«, fragte sie wie gewöhnlich laut.
Kaz kicherte. »Du bist vielleicht noch nicht fähig, deine Gedanken deutlich auszuschicken, aber du machst zweifellos Fortschritte. Seit wir heute aufgebrochen sind, treffen mich deine Gefühle wie Hagelkörner zwischen den Ohren.«
»Wie witzig! Sieh mich an, du schuppiger Knilch – deine Frechheiten lasse ich mir nicht bieten! So groß bist du auch wieder nicht, dass ich nicht …«
»Was?«, fragte Kaz gedehnt. »Das möchte ich sehen.«
»Ach du …« Sie boxte ihn mit aller Kraft, doch es zeigte keine Wirkung.
»Gut gemacht, Kaz«, warf Veldan leise lachend ein. Dann drehte sie sich zu der schäumenden Toulac um und sagte: »Er hat dich herausgefordert und gewonnen. Verstehst du das nicht? Er hat nur deine Befürchtungen zerstreuen wollen. Vielleicht ist es ihm zu gut gelungen. Aber er hat Recht, weißt du. Wir konnten deine Empfindungen sehr stark spüren, und das ist ein sicheres Zeichen, dass du zur Gedankenübertragung fähig bist. Du brauchst nur noch zu lernen, wie man den Gedanken gezielt auf jemanden richtet und wie man ihn gegen andere abschirmt, dann wirst du auch imstande sein, Gefühle in Worte zu verwandeln, und einen ebenso guten Wissenshüter abgeben wie wir alle.«
»Glaubst du das wirklich?« Toulacs Ärger, der, wie sie zugeben musste, ihrer Angst entsprungen war, löste sich in Wohlgefallen auf.
»Ich weiß es«, antwortete Veldan bestimmt. »Schau, da sind wir.«
Vor dem Dorf beschrieb die Straße eine Kurve und führte über eine Bogenbrücke, die sich über einen schmalen, lebhaften Fluss spannte. Sein Wasser war gelbbraun wie Whisky, da er aus dem Heidemoor kam. Ein kurzes Stück flussaufwärts stand eine Windmühle mit großen Flügeln. Auf der anderen Seite der Brücke zog sich eine verwitterte graue Mauer hin, auf der Moos und gelbe Flechten wuchsen: eine winzige Welt für sich, mit kleinem dunkelrotem Löwenmaul und hängendem Leinkraut, und die runden, wächsernen Blätter des Pfennigkrauts quollen zwischen den Steinen hervor wie grüne Münzen. Dunkelgrünes Efeu und die feinen Halme der Hirschzunge wurzelten in jeder Spalte. In der alten Mauer gab es einen schmalen Durchlass zu einer Gasse mit einer Mauer auf beiden Seiten. Früher musste es ein Tunnel gewesen sein. Toulac musterte die Mauerreste und vermutete, dass hier ein Torhaus gestanden hatte. Sie fand es verwunderlich, dass ihre neuen Gastgeber es dermaßen verfallen ließen.
Zu ihrer Verblüffung schwenkte Kaz vor dem Durchgang nach links ab und bog nach ein paar Schritten um die Mauerecke. Toulac verschlug es die Sprache. Die Befestigungsanlage führte in ein kleines Gehölz und hörte einfach auf. Die alte Kriegerin konnte es kaum glauben, doch man hatte die Mauer völlig verfallen lassen, sodass nur noch gesprungene Steine zwischen Gras und Brennnesseln und unter Brombeerranken lagen, die in Hülle und Fülle zwischen den Bäumen wucherten.
»Was um alles in der Welt ist hier passiert?«, fragte Toulac ungläubig.
Veldan zuckte die Achseln. »So sieht es schon seit Jahrhunderten aus. Offenbar hat es im Schattenbund eine Spaltung gegeben, und eine Gruppe hat sich abgesondert und weiter oben im Tal neu gesiedelt.« Sie schauderte. »Es muss ein verwegener Haufen gewesen sein. Dort oben ist es unglaublich öde und windig. Jedenfalls verschärfte sich der Streit bis zum offenen Krieg, weshalb diese Mauern gebaut wurden. Am Ende, als das untere Dorf unter Belagerung stand und es so
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