Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
dann komme ich sofort zurück.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging ein kurzes Stück den Gang entlang, drehte sich um und rannte los, dann sprang sie genau von der Kante weg in die Luft.
Sie kam hart mit den Füßen auf der Plattform auf, und wie Packrat so düster vorhergesagt hatte, war der Schwung so groß, dass sie Mühe hatte, abzubremsen und nicht am anderen Ende über den Rand zu rutschen. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, als sie an der Kante schwankte und mit den Armen ruderte, dann gelang es ihr, sich nach hinten zu werfen, und sie landete äußerst würdelos, aber sehr erleichtert, auf dem Hintern. Sie rappelte sich auf und drehte sich zu Packrat um, um ihm zu sagen, dass überhaupt nichts dabei sei. Doch die Worte erstarben ihr auf den Lippen, denn sie sah, wie er sich zum Sprung bereit machte.
»Packrat, nein!«, schrie sie. Der Sprung erschien mit einem Mal viel gefährlicher, wenn einer ihrer Freunde ihn unternahm, und Packrat war nicht gerade der geschmeidigste Turner der Welt. Er hielt lediglich inne, um eine schamlose Geste anzudeuten, dann warf er sich über den Abgrund.
Er lief nicht Gefahr, über die Plattform hinauszuschießen, denn er kam nicht einmal bis zur Mitte, aber er landete wenigstens sicher. Aliana stützte ihn. »Lass mich los.« Er schüttelte ihre Hand ab, und die Bewegung war ganz eckig vor Zorn. Aliana sah, dass er weiß im Gesicht war, und ihr wurde weich ums Herz. So sehr sie sich manchmal über ihn ärgerte, er hatte sowohl seine Furcht als auch seine gegenteilige Überzeugung hintangestellt, um ihr zu folgen, weil er sie nicht allein lassen wollte. Allerdings hütete sie sich, diesen Umstand zu erwähnen. »Aha, du hast also beschlossen, doch noch mitzukommen«, stellte sie fest. »Ich hätte dich für vernünftiger gehalten.«
Er warf ihr einen gemeinen Blick zu. »Ich komme mit, weil man sich auf dich allein nicht verlassen kann«, schnauzte er. »Du hast nicht einmal so viel Verstand wie ein frisch geschlüpfter Sperling. Los jetzt – quatsch nicht, damit wir von dem verdammten Ding wegkommen. Es gefällt mir nicht, hier oben zu thronen, wenn es auf allen vier Seiten abwärts geht.«
Von der Mitte der Säule wirkte die Entfernung zur gegenüberliegenden Öffnung viel größer als vom Gang aus gesehen, auch wenn Aliana wusste, dass der Abstand gleich war. Dennoch hatte Packrat Recht gehabt. Der Sprung würde viel schwieriger werden, weil die Plattform keinen Platz für einen anständigen Anlauf hergab. Kurz stand sie da, atmete tief durch und sammelte sich, dann schob sie beiläufig den üblen Moment beiseite, wo sie sich selbst hätte bloßstellen müssen, und sah plötzlich, dass zum Zögern keinerlei Zeit mehr blieb.
Eine dünne Stichflamme, so hoch wie sie selbst, schoss aus einem Loch in der Mitte des Gitters empor. Mit einem lauten Fauchen sprang sie in die Höhe, sank zurück und verschwand in dem Moment, da eine weitere an anderer Stelle aufschoss, die wiederum durch die nächste und noch eine ersetzt wurde, alle an wahllosen Stellen, sodass man nicht erahnen konnte, wo die nächste erscheinen würde.
»Komm weiter«, schrie Packrat. »Beweg deinen Hintern, ehe wir beide geröstet werden!«
Aliana fasste sich, sauste auf den Rand der Plattform zu und sprang. Sie war noch nicht ganz bereit gewesen und es wurde ein unbeholfener Sprung, bei dem sie mit einem Fuß ein wenig abrutschte. Während des Augenblicks in der Luft spürte sie den Abgrund, der unter ihr klaffte, mit entsetzlicher Eindringlichkeit. Würde sie es schaffen?
Erleichterung durchschoss sie, als sie mit den Füßen festen Grund berührte. Sie taumelte in den Gang und fiel auf die Knie, aber mit Packrat auf der anderen Seite blieb keine Zeit, das eigene Glück überhaupt wahrzunehmen. Sie sprang auf und drehte sich nach ihm um. Er machte sich zum Sprung bereit, und sie sah ihm am Gesicht an, dass er nicht zuversichtlich war. Als er schon vorwärts rannte stieg eine Stichflamme fast direkt vor seinen Füßen in die Höhe, sodass er gezwungen war, zur Seite auszuweichen. Aliana war sicher, dass er den Anlauf abbrechen würde, aber noch während ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, sah sie, wie er die Kante erreichte und sich schonungslos in die Luft warf.
Vom allerersten Augenblick an war klar, dass er es nicht schaffen würde. Das Gesicht schreckverzerrt, prallte er in Brusthöhe gegen die Kante und versuchte beim Abwärtsgleiten auf dem glatten Metallboden mit den Händen
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