Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
dass es ihr gut geht, wirst du dann Ruhe geben?«
»Oh, Meisterin Toulac, wenn du mich zu ihr bringst, werde ich alles tun, was du sagst.«
»Wenn das so ist, dann nenne mich nie wieder im Leben Meisterin Toulac, hast du verstanden? Toulac genügt. Nun lass uns gehen – und Scall, du musst leise sein. Olsam hat heute eine Menge zu tun, und Ailie ist auch sehr beschäftigt. Wenn wir uns jetzt hinausschleichen, werden wir hoffentlich zurück sein, ehe es jemand merkt.«
Toulac lauerte an der Treppe durch das Geländer spähend, bis die Luft rein war. Dann winkte sie Scall, ihr zu folgen, und sie schlüpften durch die Gasthaustür, ohne dass jemand sie bemerkte. Die Dämmerung war hereingebrochen, und die Dörfler saßen alle zu Hause beim Abendessen. Niemand sah die beiden, wie sie die verlassene Straße entlangschlichen. Als sie sicher aus dem Dorf heraus waren, eilten sie über den dunklen Weg beim Fluss. Toulac war froh, dass sie den Weg schon einmal gegangen war und wusste, wo die Ställe lagen. Noch günstiger fand sie, dass Netze mit Glimmern in den Ästen hingen und den Weg beleuchteten.
Bei den Ställen angelangt duckten sie sich hinter eine Hecke, von wo sie über die Koppel schauen konnten. In den Gebäuden brannte noch Licht, und Leute liefen hin und her, die die Pferde für die Nacht versorgten. »Wir werden eine Weile warten müssen, bis alles ruhig ist«, flüsterte Toulac.
Die Zeit verging. Nach und nach kamen die Sterne hervor, und die Lampen in den Ställen gingen eine nach der anderen aus. Der Abend war herbstlich kühl, das Gras nass vom Tau. Toulac sah, dass Scall fror – tatsächlich hörte sie ihn mit den Zähnen klappern –, doch er klagte kein einziges Mal. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, ihm ihren Schaffellmantel zu geben, doch Vernunft zwang sie zur Hartherzigkeit. Der Junge würde in seinem zarten Alter bestimmt nicht das Reißen kriegen, und wenn sich einer bei diesem Streich eine Erkältung einfangen sollte, dann besser er als sie, besaß er doch viel mehr Kraft, um eine Krankheit abzuwehren.
Plötzlich zerriss ein entsetzlicher Schrei die Stille, als würde jemandem unerträgliche Qualen zugefügt. Scall schrak heftig zusammen und klammerte sich keuchend und zitternd an Toulac. »Was … was …?« Er brachte nur ein ersticktes Quieken heraus.
»Das war nichts«, flüsterte sie. »Nur eine Schleiereule – ein großer, weißer Vogel.«
»War das ihr Todesschrei?«
Toulac war froh, dass die Dunkelheit ihr Lächeln verbarg. Sie hatte vergessen, dass Scall ein waschechtes Stadtkind war. »Nein, sie hören sich immer so an. Man erschrickt doch mächtig, so im Dunkeln, wie? Erschreck nicht, wenn du eine siehst – sie fliegen völlig lautlos, und sie haben riesige dunkle Augen, mit denen sie aussehen wie ein Geist.«
»Ich bin froh, dass du mich gewarnt hast«, flüsterte Scall. »Ich hoffe, Feuervogel freut sich, mich zu sehen, nach allem, was war.«
»Bestimmt – mach dir keine Sorgen.«
Endlich war alles still, und Toulac entschied, sie könnten sich vorwärts wagen. Sie gab Scall einen Knuff. »Weißt du noch unseren Plan, wenn etwas schief geht? Vergiss nicht, dass du sofort rennst. Wenn jemand kommt, lenke ich ihn ab, weil ich vielleicht ungestraft davon komme, du aber nicht. Du läufst schnurstracks zum Gasthof, und lass dich bloß nicht beobachten, wie du hineingehst. Wenn sie herausfinden, dass wir weg waren, und wenn es Ärger gibt, schnapp dir Ailie und erkläre ihr die ganze Sache. Sie wird sich um dich kümmern, bis ich wieder da bin. Klar?«
»Klar.« Scall klang angespannt.
»Dann los jetzt. Und sei um Himmels willen leise.«
Sie schlichen um den Rand der Koppel, Toulac hielt sich dabei geduckt, Scall ahmte sie linkisch nach. Unterdessen dämmerte ihr, dass sie für das ganze Unternehmen wahrscheinlich eine Erlaubnis bekommen hätte, wenn sie nur Veldan und Elion einen Gedanken geschickt und die Lage erklärt hätte. Warum also hatte sie das nicht getan?
Zum einen, weil sie an diesem Abend nicht noch einmal mit den Wissenshütern darüber reden wollte, ob sie nun bleiben würde oder nicht, und zum andern weil sie ihnen – und Blank – unbedingt zeigen wollte, dass sie unabhängig war und niemand ihr zu sagen brauchte, was sie zu tun hatte. Wenn sie jedoch ganz ehrlich sein sollte, war der Hauptgrund der, dass es einen Riesenspaß machte, im Dunkeln umherzuschleichen.
Du verrückter alter Besen. Wirst du denn nie erwachsen?
Nicht, solange ich es
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