Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
nicht unbedingt rückgängig zu machen.«
Gilarra fuhr auf, und ihre Füße gerieten bedenklich nah an den Abgrund. »Versuche nicht, mir das auszureden«, antwortete sie drohend. »Ich weiß, was ich zu tun habe.«
»Ich würde nicht im Traum daran denken.« Kaita redete ruhig, doch dabei quetschte sie vor Angst Agellas Hand. »Ich wäre dir aber dankbar, wenn du mir den Grund nennen würdest. Schließlich müssen wir am Ende wieder raufgehen und den Leuten erklären, warum ihre Hierarchin nicht mehr bei ihnen ist.«
Gilarra lachte bitter. »Als ob die mich vermissen! Es ist Galveron, den sie eigentlich wollen – glaubst du, ich weiß das nicht?«
»Sie wollen und brauchen Galveron, ja, aber als den Hauptmann der Gottesschwerter, nicht als ihren Hierarchen«, widersprach die Heilerin. »Das sind zwei sehr verschiedene Aufgaben.« Sie atmete tief durch. »Lass dein Volk nicht so zurück, Gilarra. Was werden die Leute dann tun, wo sie schon so verzweifelt sind? Manche haben den Glauben an Myrial verloren, das stimmt …«
»Wie du zum Beispiel.«
Kaita sah keinen Sinn darin, sie zu belügen. »Ja, wie ich. Aber viele glauben noch, und oft ist es nur der Glaube, der sie noch aufrecht hält. Dein Tod könnte ihnen die letzte Hoffnung rauben. Willst du das wirklich?«
»Du irrst dich«, sagte Gilarra. »Mein Tod wird ihnen Hoffnung geben. Zavahl hätte sich dem Großen Opfer unterwerfen sollen, um sich höchstselbst bei Myrial für sein Volk einzusetzen. Da er versagt hat, muss ich es an seiner Stelle tun.« Mit aufrichtigem Ernst sah sie die Heilerin an. »Verstehst du denn nicht, Kaita? Ich habe versagt, genauso wie Zavahl. Mir bleibt nur noch dieses eine, was ich für mein Volk tun kann. Verzeih mir, bitte.«
»Gilarra, nein!«, schrie Kaita. So sehr sie die schmale Brücke auch fürchtete, sie rannte los. Doch es war zu spät. Gilarra hob die Arme, als flehte sie demütig zu ihrem Gott, und warf sich in den Abgrund.
Alles war still. Die Plattform auf der anderen Seite war leer, bis auf die Laterne.
Kaita rückte langsam von der Kante weg, dann erlaubte sie ihren zitternden Beinen einzuknicken. Agella hatte sich nicht gerührt, sie starrte auf die Stelle, wo die Hierarchin gestanden hatte, und fluchte leise. Die Heilerin wusste nicht mehr, was sie denken sollte. War Gilarra nun selbstsüchtig, schwach und verblendet? Oder war ihre letzte Tat ein heldenhaftes Selbstopfer?
Sei nicht albern! Die dumme Pute hat uns im größten Schlamassel im Stich gelassen.
Doch wenn sie das wirklich meinte, warum standen ihr dann die Tränen in den Augen? Am Ende hatte Gilarra ihrem Volk das Wertvollste geschenkt, über das sie verfügte – das eigene Leben.
Kaita blickte noch einmal auf die leere Plattform. Würde ihr Opfer irgendetwas bewirken? Die Zeit würde es zeigen.
Für Seriema und ihre Gefährten war es keine leichte Nacht gewesen, und bei Tagesanbruch waren sie unausgeruht und gereizt. Die Störung kam in der Dunkelheit. Sie wurden von lautem Kratzen am Scheunentor geweckt, lose Schieferplatten schlitterten über das Dach und fielen krachend herab, ein grelles Gekreische setzte ein. Seriema erwachte mit einem verwirrten Schrei aus quälenden Träumen und sah Cetain bereits auf den Beinen und nach seinem Schwert greifen, während rings umher die Krieger ebenfalls aufstanden und sich zum Kampf bereit machten. »Es ist soweit«, sagte er grimmig. »Sie haben uns gefunden.«
Unten in der Scheune gerieten die Pferde in Panik. Tormon stand zwischen ihnen, um sie zu beruhigen. Zum Glück gab es keine Fenster, deretwegen man sich hätte Sorgen machen müssen. Frische Luft kam durch ein Loch hoch oben in der Mauerwand, wo ein Stein herausgenommen war, und nicht einmal die dürren Biester konnten durch so enge Löcher dringen. Cetain verteilte seine Krieger an den Schwachstellen des Gebäudes, die Schwertkämpfer an das Tor und die Bogenschützen auf den Heuboden, um jeden abzuschießen, dem es gelänge, durch das Dach zu stoßen. Einige Männer befahl er zu Tormon, damit sie zusammen die Pferde davor bewahrten, sich selbst oder einander zu verletzen. Angesichts einer Gefahr folgen Pferde dem Drang zu fliehen. Wenn ihnen jedoch der Weg versperrt ist, werden ihre Fluchtversuche immer verzweifelter und sie können sich ernsthafte Verletzungen zuziehen. Seriema konnte es den armen Tieren nachfühlen. Sie selbst sah natürlich, dass sie in der starken Scheune sicher war, und dennoch schlug auch ihr Herz schneller,
Weitere Kostenlose Bücher