Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
nicht die Gelegenheit bekam, dich kennenzulernen – ich hätte gern wieder einmal mit einem aus meinem Volk gesprochen. Ich zeige dir jetzt, wie man die Brücke verlängert, dann werden Zavahl und ich uns zurückziehen. Die Brücke wird ausfahren und dich in die Mitte des Auges bringen. Dann kehrt sie in ihre vorige Stellung zurück, aber du … Du wirst in Myrial einverleibt.«
Amaurn seufzte. »Nun, vermutlich hat mancher ein schlimmeres Schicksal als die Unsterblichkeit. Und schließlich habe ich von geborgter Zeit gelebt, seit Cergorn mich zum Tode verurteilt hat. Leb wohl, Helverien, lebt wohl, Zavahl und Aethon. Ich werde mein Bestes tun, das verspreche ich. Und sagt Kalt und Toulac, sie sollen bloß gut auf Veldan aufpassen – nicht dass sie dazu eine Aufforderung benötigen.« Auf einmal merkte er, dass er die Sache hinauszögerte. »Und jetzt, Helverien, zeige mir, wie …«
*Wartet!* Das war Thirishri. *Du brauchst es nicht zu tun, Amaurn. Ich werde gehen. Sehen wir es doch so*, fügte sie verlegen hinzu, *ich brauche keinen Körper aufzugeben so wie du, und ich merke jetzt, dass Cergorn mir auf ewig fehlen wird.* Sie seufzte, wie nur ein Windgeist es kann. *Außerdem könnte ich nie wieder nach Gendival zurückkehren und Veldan in die Augen sehen, nach dem, was ich getan habe. Ich muss es tun, Amaurn. Ich muss mich hergeben, um der neue Geist Myrials zu werden. Vielleicht kann ich für meine Tat büßen, indem ich die Welt rette.*
Und damit ließ sie sie stehen. Ehe jemand widersprechen konnte, war Thirishri auf und davon, und nur ein Schimmer in der Luft zeigte an, dass sie wie ein Schweifstern auf das Auge zusauste. Sie stürzte sich in dessen Mitte – und war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Für kurze Zeit geschah gar nichts. Dann setzte der tiefe Brummton wieder ein, schwoll an und schwang sich zu einem herrlichen Höhepunkt empor. Das bedrohliche schwarze Blitzen hörte auf, und die Mitte klarte zu einem sanft blauen Dämmerhimmel auf. In der wunderbaren Himmelsmusik hörte man die Stimme des Windgeists. *Ahhh – jetzt verstehe ich. Ich verstehe alles, die ganze Welt Myrial in ihrer unendlich verwickelten Schönheit.* Sie lachte. *Ich bin so glücklich, dass ich es an deiner Stelle getan habe, Amaurn. Du wirst in deiner vergänglichen Fleischeshülle leben, aber ich, ich bin eine ganze Welt.*
»Kannst du die Schleierwand in Stand setzen?«, fragte der Archimandrit gereizt. Er war froh, nicht mehr oft mit ihr sprechen zu müssen. Diese Angeberei ging ihm schon jetzt auf die Nerven.
*Ich lerne es bereits, während wir hier plaudern, und es wird erledigt sein, bevor ihr wieder über der Erde seid.*
Na gut, bei diesem Grad an Wirksamkeit hat sie vermutlich das Recht, eitel zu sein.
Eigentlich sollte er erleichtert und begeistert sein, dass die Gefahr überwunden und die Welt gerettet war, räumte er ein, aber im Augenblick konnte er an kaum etwas anderes denken als an seine trauernde Tochter und den sterbenden Feuerdrachen.
Ich gehe lieber wieder zu Veldan und Kaz …
Doch Thirishris Stimme hielt ihn zurück. *Amaurn! Ich habe vielleicht die Lösung! Der Feuerdrache könnte doch noch Glück haben!*
Kher blieb keuchend bei Elion und Vifang stehen. »Bei meinem Leben, was bin ich froh, euch zu sehen! Ich habe nicht geglaubt, dass ihr davonkommt! Seid ihr einigermaßen wohlauf?«
Bin ich das?
Elion wusste es nicht gleich. Dichter Staub hing in der Luft, gemischt mit Rauch, und er hustete und schnaufte. Die Haut brannte ihm von der Hitze bei der Sprengung, aber soweit er sehen konnte, waren ihm ernstere Verbrennungen erspart geblieben. Ein Rest verzweifelter Kraft, der ihn über die letzten paar Augenblicke gerettet hatte, verließ ihn soeben, und da er sich seiner Wunden bewusst wurde, taten sie plötzlich verflucht weh. Er sah Kher wütend an. »Sei nicht so blöd! Sehen wir etwa danach aus?« Doch dann traf ihn mit einem Mal die Erkenntnis, dass er und Vifang allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt hatten. Erleichterung und Verwunderung durchströmten ihn, und er fing an, ohnmächtig zu lachen, und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen und ihre Spuren durch Blut und Staub zogen.
»Du bist allerdings wohlauf«, erwiderte Kher entrüstet, »und das ist nach deinen Mätzchen mehr, als du verdienst.« Er schickte Alsive in den Garten zurück, damit sie sein Bündel holte, das den kleinen Arzneikasten enthielt, welchen die Wissenshüter immer bei sich
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