Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Toulac von ihnen hielt, dem einstigen Hierarchen, der in einer Stadt geboren und aufgewachsen war, kamen sie vor wie wilde Tiere – und über solche hatte er gehört, sie seien gefährlich, unberechenbar und grimmig.
»Du denkst ganz wie der alte Zavahl.«
»Verzeihung bitte?« Noch immer fühlte er sich hin und wieder von den Unterbrechungen des Drachen überrascht.
»Dieser ganze Unsinn über wilde Tiere entspringt dem Denken eines Menschen, der nie in Gendival gewesen ist und die vielen vernunftbegabten und gesitteten Wesen, die dort leben und arbeiten, nicht gesehen hat.« Aethon klang leicht belustigt. »Du hörst dich an, als hättest du den Feuerdrachen Kazairl nie gesehen und als hättest du nicht in deinem Geist einen Drachen wohnen.«
»Ich stimme dir zu, was das Letzte angeht«, erwiderte Zavahl, »aber bedenke, dass ich mich mit Veldans Schoßungeheuer nicht verständigen kann. Auf mich wirkt er trotzdem noch wild und grausam. Und was Gendival angeht, so bin ich zwar dort gewesen, habe es aber nicht gesehen. Mir wurden die Augen verbunden, als man mich hinbrachte, darum kann ich nicht mitreden. Die einzigen fremden Wesen, die ich gesehen habe, sind die, die uns hierher verschleppt haben, und die finde ich nicht besonders ermutigend.«
»Du hast Recht, das hatte ich vergessen«, sagte Aethon rücksichtsvoll. »Dann lass mich dir Gendival zeigen, wie es wirklich ist.«
Zavahl schloss die Augen, und eine Reihe von Landschaften erschienen ihm, von denen jede wie ein schöner, bunter Traum aussah. Der Drache zeigte ihm die Schattenbundsiedlung am See und ihre bemerkenswerten Bewohner. Als Zavahl blinzelnd in die Welt des Meeres, der spitzen Steine und des Feuerscheins zurückkehrte, wusste er nicht, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war. Jedoch war das Feuer ein Stück heruntergebrannt. Solange er sich von dem Drachen hatte davontragen lassen, hatte er die Kälte nicht mehr gespürt, aber jetzt traf sie ihn mit doppelter Wucht.
Seufzend stemmte er sich auf den Ellbogen. Er wollte gerade nach draußen schlüpfen und etwas Holz aufs Feuer legen, als ein Dobarchu den Kreis verließ und zu dem Treibholzhaufen ging, den Toulac und er zusammengetragen hatten. Er nahm ein paar Stücke in seine kurzen Arme und tappte auf den Hinterpfoten zurück ans Feuer, wo er das Holz sorgfältig aufschichtete, um hohe Flammen zu erzeugen. Ihm folgten zwei Kameraden, jeder mit einem Arm voll Feuerholz, und gemeinsam schürten sie das Feuer zu einer beträchtlichen Größe.
Alle ihre Bewegungen hatten etwas so Wohlüberlegtes, was in Zavahls Meinung eine Änderung herbeiführte, wie sie nicht einmal die Bilder des Drachen hatten bewirken können. Die fremden Wesen, die Aethon ihm gezeigt hatte, riefen in ihm Ehrfurcht, Neugier, ja manchmal auch Angst hervor, aber wirklich waren sie ihm dennoch nicht vorgekommen. Da er sie noch nie selbst gesehen hatte, mochten sie ebenso gut ein Hirngespinst sein. Aber als er nun die Dobarchu bei dieser vertrauten, sehr menschlichen Verrichtung sah, hörte er auf, sie als Tiere zu betrachten, und empfand sie mehr wie seinesgleichen, zwar wie pelzige Leute von eigenartiger Gestalt, aber dennoch wie Leute.
So betrachtete er die kleine Gruppe Flüchtlinge mit neuen Augen. Eine Mutter hatte sich um ihr schlafendes Kind gerollt und hielt es warm und sicher an sich gedrückt. Eine andere brach mit einem Stein die Muscheln für die Kleinen auf. Zwei erwachsene Paare schmiegten sich beim Feuer aneinander. Einer wimmerte im Schlaf, und sein Partner strich ihm sacht über das silberbraune Fell, bis er wieder ruhig schlummerte. Zavahl rührte der Anblick. Wenn es stimmte, was Toulac erzählt hatte, dann hatten die Dobarchu genug erlitten, um ihr Leben lang Albträume zu haben. Er empfand großes Mitgefühl. Sie hatten kein Zuhause mehr, genau wie er, und auch sie hatten seither gelitten.
Und nun müssen wir uns alle an fremdem Ort eine neue Heimat und ein neues Leben schaffen. Ich habe viel mehr mit diesen komischen kleinen Geschöpfen gemeinsam als mit den meisten Menschen, die ich kenne.
Das war ein ernüchternder Gedanke.
Doch auch seine Anteilnahme konnte ihn nicht völlig von der beißenden Kälte ablenken. Er fror und schob die kalten Hände unter sein Hemd – wodurch er natürlich noch mehr fror. Plötzlich bemerkte er neben sich eine Bewegung, und etwas Warmes, Weiches drückte sich an ihn. Es war die schlanke Heranwachsende, die der unstillbaren Neugier der Jugend nachgab und kam, um
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