Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
lassen? So kurz nach dem Tod ihrer Mutter brauchte sie ihn bei sich, und seine erste Verantwortung hatte ihr zu gelten. Er hatte nicht das Recht, sich selbst in Gefahr zu bringen, indem er in eine so kalte, stürmische Nacht hinausritt.
Aber der arme Junge …
Kopfschüttelnd wandte er sich ab und ging mit schwerem Herzen und schwerem Schritt die Treppe hinauf. Er machte sich darauf gefasst, Rochalla zu erzählen, was geschehen war. Es würde sie aufwühlen. Trotzdem war ihm ihre Anwesenheit gerade jetzt ein Trost. Auch sie schien ein Teil seiner eigenartigen neuen Familie geworden zu sein, die er in den letzten Tagen um sich versammelt hatte. Wie anders als Seriema war sie doch, die, wie sich bei ihrem Streit herausgestellt hatte, ihren eigenen Weg gehen würde, ganz gleich, was …
Auf halbem Weg nach oben hielt er inne.
Was ist mit Presvel? Er ist nicht mit Seriema fortgeritten. Und er hat sich auffallend rar gemacht, als die Nachricht umging, dass der Überbringer umgebracht wurde.
Mit gerunzelter Stirn ging der Händler weiter und schwor sich, ein Auge auf Seriemas Diener zu haben. Seit sie Tiarond verlassen hatten, war der Städter immer weniger mit der harten Welt draußen zurecht gekommen, und seit einer Weile schon gab sein Benehmen Anlass zur Sorge.
Wenn ich Rochalla vor ihm warnen könnte, ohne sie allzu sehr zu beunruhigen, würde ich ihr glatt raten, sich von ihm fernzuhalten. Er hat etwas an sich, dass ich ihm nicht mehr traue. Er ist ein verzweifelter Mann geworden. Er spürt, dass er sein Leben nicht mehr beherrscht, und solche Leute sind immer gefährlich. Aber wenn er irgendetwas damit zu tun hat, was Scall widerfahren ist, dann drehe ich ihm eigenhändig den Hals um.
Kalt wusste, dass er seine Handlungsweise Arcan nicht begreiflich machen könnte, sollte dieser ihn aufgreifen. Sein Lehrer hatte ihm die Reise auferlegt, während er sein Leben aushauchte, aber dafür gab es keine Zeugen außer Scall, und da er den Jungen entführt hatte, durfte er vernünftigerweise von dieser Seite keine Hilfe erwarten. Sobald man Grimms Leiche fand, würde es so aussehen, als hätte er den Mord begangen und wäre geflohen, um den Folgen seiner Tat zu entkommen. Es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken, ob er das Richtige getan hatte. Es gab kein Zurück. Der junge Überbringer war todunglücklich und voller Angst und er trauerte, und zu alldem war er nun heimatlos, ein Flüchtiger und Ausgestoßener seiner Sippe.
Ganz davon zu schweigen, dass ich durchnässt und durchgefroren bin – aber das ist das Geringste. Am besten ich achte allein auf den Weg, sonst habe ich mich bald auch noch verirrt.
Und nicht nur das. Er hatte auch darauf zu achten, Scall in seiner Gewalt zu behalten. Er spürte den Groll des Jungen brennen wie eine rauchende Flamme und dass er verzweifelt versuchte, sich gegen ihn zu behaupten. Wenn er Scall jetzt verlöre, hätte er die Aufgabe, mit der Grimm ihn betraut hatte, schon verpatzt, und alles wäre vergebens gewesen.
Wie alle Rotten konnte Kalt bei Nacht ausgezeichnet sehen, aber in diesem eisigen, schwarzen Aufruhr des Sturms war nichts zu erkennen. Obwohl er der Schleierwand entgegenritt und man sie von dem Turm von Arcans Festung aus sehen konnte, lag sie vom Boden aus betrachtet hinter dem hügeligen Horizont und ihr Schimmern wurde vom Hagel verschluckt. Die einzige Möglichkeit, die Richtung zu bestimmen, war nach dem Wind. Er ließ ihn stets auf die Linke Schulter wehen, kreuzte die Finger und betete, dass er nicht drehte. Das war immerhin zu einem gut, dachte er verbissen, denn andernfalls würde er es schwer haben, sobald es darum ging, die Pferde zu lenken. Keines war glücklich darüber, den hübschen warmen Stall gegen einen nasskalten Albtraum zu tauschen, keinem gefiel es, dass ein stechender Hagel auf es niederprasselte, und allen dreien war mächtig unheimlich zumute, da der Sturm heulte und kreischte wie ein Heer von Dämonen.
Scalls kleine Braune fand es besonders schwierig, in der abscheulichen Lage zurechtzukommen. Sie hatte die Ohren angelegt, den Schwanz eingezogen, und er merkte an der Führungsleine, dass sie beständig zitterte. Kalt verfluchte sich selbst dafür, dass er sie mitgenommen hatte. Er hätte weit besser daran getan, eines der robusten Rottentiere zu nehmen, die an die schwärzesten Nächte und das raueste Wetter gewöhnt waren. Aber er hatte überlegt, dass, wenn er Scall schon seiner Sicherheit und den Freunden entreißen musste, der
Weitere Kostenlose Bücher