Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
springt. Galveron ist zu verständig, als dass er uns beide für ein bloßes Hoheitszeichen hierher schleppt. Der Ring muss noch in anderer Weise wichtig sein, wovon wir gewöhnlichen Leute gar nichts wissen.
Kann vielleicht nur der Hierarch den Ring so nutzen, wie es vorgesehen ist? Oder hätte jeder, der den Ring besitzt, die Macht des Hierarchen?
Und wenn das so wäre, dann bräuchte der Hierarch nicht unbedingt Gilarra zu sein …
Aliana hielt, von der Ungeheuerlichkeit des Gedankens eingeschüchtert, einen Moment den Atem an. Konnte das wahr sein? Aber das würde die ganze Verehrung Myrials doch zu einem Possenspiel machen!
Na und? Myrial hat mir noch nie etwas eingebracht, auch nicht meinen Eltern oder Alestan – oder sonstwem in Tiarond. Und von der neuen Hierarchin halte ich auch nicht viel. Also, Galveron könnte es besser als sie!
Ihre Gedanken überschlugen sich mit einem Mal. Warum nicht? Warum eigentlich nicht? Galveron war in jeder Hinsicht ein viel besserer Anführer. Er war ein Soldat und verstand sich darum besser aufs Kämpfen und auf planvolles Vorgehen. Er war gründlich und besaß einen untrüglichen Sinn dafür, was wirklich wichtig war. Er war ein echter Anführer, der an seinen Leuten echten Anteil nahm. Er konnte selbst in dem verzweifeltsten Flüchtling Zuversicht und Hoffnung wecken. Je mehr Aliana darüber nachdachte, desto sicherer fühlte sie, dass der neue Hauptmann der Gottesschwerter der einzige Mann war, der die verbliebenen Tiarondianer aus dieser gefährlichen Lage herausführen könnte.
Dabei gab es nur eine Schwierigkeit.
Galveron war in seinem Verhalten ebenso ehrlich und geradeheraus, wie er allzu treu ergeben war. Als Hauptmann der Gottesschwerter nahm er seine Vertrauensstellung sehr ernst, und keinesfalls würde er die Hierarchin betrügen. Die Diebin schnaubte wütend. Wenn doch der unglückliche Mann nicht so anständig und selbstlos wäre! Ihrer Meinung nach würde Tiarond eine Treulosigkeit gegenwärtig sehr viel mehr nützen.
Ich frage mich, ob ich die Bedeutung des Rings nicht aus ihm herausbringen kann – unauffällig natürlich. Der Tropf würde glatt eine großartige Gelegenheit vertun!
Das anzusprechen wäre allerdings das Schlechteste, was sie tun könnte. Sie hatte nicht lange gebraucht, um eins herauszufinden: Ganz gleich wie feinsinnig sie auch vorzugehen meinte, Galveron durchschaute sie sofort. Er wäre entsetzt, wenn er wüsste, welche dunklen Pläne sie im Stillen schmiedete, und würde sie von da an mit Falkenaugen beobachten.
Aber so leicht gebe ich mich nicht geschlagen. Wenn wir wieder im Tempel sind, werde ich Kaita über den Ring ausfragen. Sie sollte darüber Bescheid wissen.
Als Aliana das nächste Mal auf ihren schlafenden Gefährten sah, begann er sich zu regen. Er rollte sich herum, rieb sich die Augen und setzte sich rasch auf. »Es ist Tag! Warum hast du mich nicht geweckt?«
Sie zuckte die Achseln. »Wozu die Eile? Es ist gerade erst hell geworden. Es gab keinen Grund, dir deinen Schlaf nicht zu lassen.«
Es war, als hätte sie gar nichts gesagt. Galveron stand auf und begann, ihre paar Habseligkeiten einzusammeln. »Die Hierarchin wird sich Sorgen machen. Wir sollten lieber aufbrechen.«
Zum Henker mit ihr! Wenn’s nach mir ginge, könnte sie sich in den nächsten Abgrund stürzen.
Aber sie war klug genug, das nicht laut zu sagen. Seufzend stand sie auf. Es hatte auch Vorteile, in aller Eile in den Tempel zurückzukehren. Zum einen würde sie Kaita wegen des Rings fragen können, und zum anderen … frühstücken! Bestimmt würde man den Helden, die Gilarra einen so großen Gefallen getan hatten, einige Extraportionen zugestehen. Nach all den Abenteuern der vergangenen Tage und einem Abend ohne Essen war Aliana hungrig genug, um ihre Schuhe zu verschlingen.
Vorsichtig wie gehetzte Tiere krochen die Diebin und der Soldat aus der Brauhaustür. Zwar war es unwahrscheinlich, dass die geflügelten Räuber sich bei Tageslicht rührten, doch die Wolken hingen so tief und der Tag war so trübe, dass die Bedrohung anhielt. Sowohl Aliana als auch Galveron waren verschiedene Male nur knapp mit dem Leben davongekommen, und sie wollten diesmal kein Wagnis eingehen.
Der Bezirk war in dicken, klebrigen Dunst gehüllt, der mit jedem trägen Lufthauch waberte. Graue Nebelarme streiften kalt und feucht über Gesicht und Hände, griffen einem an die Kehle und legten mit ihren feinen Tröpfchen einen silbernen Schimmer auf Alianas braune
Weitere Kostenlose Bücher